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Die Schweiz, ein Eldorado für Bandenkriminalität?

Drei ausgebrannte Fahrzeuge nach dem Überfall auf einen Geldtransporter am 2. Dezember 2019 in der Waadtländer Gemeinde Daillens. Keystone / Laurent Gillieron

Serienüberfälle auf Geldtransporter im Kanton Waadt, wiederholte Angriffe auf Geldautomaten im Tessin: Die Grenzregionen der Schweiz sind ein bevorzugtes Ziel für Kriminelle aus dem benachbarten Ausland. Geldkuriere und Politiker weisen auf schwerwiegende Sicherheitsmängel hin und fordern Massnahmen von der Regierung.

In der Schweiz wird gerne Bargeld verwendet. Im Land der Banken werden nach wie vor 70% der Transaktionen in bar abgewickelt. Und damit die Schweizer Bevölkerung jederzeit am nächsten Geldautomaten Bares abheben kann, müssen die Geldkuriere Tag und Nacht fahren.

Um die Nachtruhe zu bewahren, werden Fahrzeuge mit einem Gewicht von mehr als 3,5 Tonnen zwischen 22.00 Uhr und 05.00 Uhr von den Schweizer Strassen verbannt. Das Gesetz sieht eine Ausnahme für Lastwagen vor, die Schnittblumen oder Lebensmittel transportieren, nicht aber für Geldtransporte. Nachts wird das Bargeld nicht in den üblichen, schwer gepanzerten Fahrzeugen mit einem Gewicht zwischen 14 und 16 Tonnen transportiert, sondern in Kleinlastwagen.

Die Liste der Angriffe wird immer länger

Diese Lücke ist den Räubern bekannt, und die Angriffe auf Geldkuriere haben zugenommen. Am 2. Dezember wurde ein Kleintransporter in der Nähe des Dorfes Daillens im Kanton Waadt ausgeraubt. Die Täter, die sich des Bargelds bemächtigten, befinden sich immer noch auf freiem Fuss.

Dies ist das sechste Mal innerhalb von zwei Jahren, dass ein Geldtransport im Waadtland angegriffen wurde. Die Polizei geht davon aus, dass die Räuber Mitglieder französischer Banden sind insbesondere aus den Vororten von Lyon.

Auch im Kanton Tessin, an der Grenze zu Italien, nahm die grenzüberschreitende Kriminalität zu. Am 22. Oktober wurde in der Gemeinde Comano ein Geldautomat ausgeraubt, der siebte derartige Überfall seit 2017.

Keine zusätzlichen Massnahmen

Im Kanton Waadt hat die Regierung mehrere Massnahmen beschlossen. Auf nationaler Ebene weigert sich die Regierung (Bundesrat) jedoch, zusätzliche Gesetze zur Bekämpfung dieser Bandenkriminalität zu erlassen. Sie bekräftigte ihre Haltung diese Woche in ihrer Antwort auf eine dringliche Interpellation der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Die Regierung hält insbesondere fest, dass sich die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten «als wirksam erweist».

«Hätten sich diese Vorfälle in Zürich ereignet, hätte die Regierung längstens gehandelt», 
Olivier Feller, FDP-Nationalrat

In der grossen Parlamentskammer fand am Mittwoch eine Dringlichkeitsdebatte zu diesem Thema statt. Finanzminister Ueli Maurer erinnerte daran, dass die Kriminalität im Land in den letzten Jahren stark zurückgegangen sei. Er räumte jedoch ein, dass diese Art von Raub ein aktueller Trend sei, bei dem Kriminelle in gut ausgerüsteten, organisierten Banden operierten und auch vor Gewalt nicht zurückschreckten.

Maurer wies auch darauf hin, dass die Regierung bereits an einer Reihe von Massnahmen zur Stärkung der Grenzsicherheit arbeite, insbesondere durch die Weiterbildung eines Teils des Grenzschutz-Personals, damit dieses künftig vor Ort eingesetzt werden könnte.

Auch technisches Material, wie Kameras und Alarmsysteme, würden an den Grenzübergängen eingesetzt, sagte der Bundesrat.

Argumente, die «nicht einleuchten»

Olivier FellerExterner Link, Nationalrat der Freisinnigen Partei (FDP.Die Liberalen), kritisiert auf Anfrage von SWI swissinfo.ch die Untätigkeit der Regierung. «Hätten sich diese Vorfälle in Zürich ereignet, hätte die Regierung längstens gehandelt», empört er sich. Er verlangt, dass die Regierung nächtliche Geldtransporte mit schweren gepanzerten Fahrzeugen bewilligt.

Diese Lösung würde «kaum zusätzliche Belästigungen verursachen», sagt er. «Das Argument des Bundesrats für das Nachtfahr-Verbot leuchtet nicht ein.»

Nicolas WalderExterner Link, Genfer Nationalrat der Grünen Partei forderte in der Debatte die Behörden auf, den Ursachen nachzugehen, weshalb die Banden aus den Nachbarländern ihre Überfälle vorwiegend in der Schweiz verübten. Der Grund sei nicht Nachlässigkeit der Schweizer Polizei, sondern die französische Gesetzgebung, die auf Diebe «besonders abschreckend» wirke, sagte er.

«Es geht um Leben und Tod»

Seitens der Geldkuriere geht man davon aus, dass sich die Schweiz von den Massnahmen Frankreichs zur Bekämpfung dieser organisierten Kriminalität inspirieren lassen könnte. «Man muss die transportierten Summen begrenzen, ein System anwenden, mit dem man das Geld im Falle eines Diebstahls unbrauchbar machen kann, und nur schwer gepanzerte Fahrzeuge für den Geldtransport einsetzen», sagt Luc Sergy, Direktor des Verbands Schweizerischer Sicherheitsdienstleistungs-Unternehmen (VSSUExterner Link).

Sergy fordert diese Massnahmen «nicht zum Schutz des Geldes, sondern zur Gewährleistung der Sicherheit der Arbeitnehmer dieser Branche und der Bevölkerung». Er sieht zwei Lösungen: «Entweder dürfen wir nachts mit geeigneten gepanzerten Fahrzeugen fahren oder man erlässt ein generelles Nachtfahr-Verbot für Geldtransporte.»

Wenn diese Transporte nachts nicht mehr möglich wären, hätte dies Folgen für die Wirtschaft des Landes. «Die Schweizer könnten morgens auf leere Geldautomaten oder auf Geschäfte stossen, die morgens keine Cash-Zahlungen akzeptierten, weil sie in ihren Kassen noch kein Bargeld hätten», sagt Sergy.

Nichts zu tun, ist jedenfalls keine Option für den VSSU-Direktor: «Es geht um Leben und Tod für die Angestellten der Branche!» Aber sind die Schweizer bereit, auf Geldbezüge rund um die Uhr zu verzichten oder weniger effiziente Bankdienstleistungen zugunsten von mehr Sicherheit zu akzeptieren? «Man wird es vielleicht akzeptieren müssen», sagt Sergy. 

«Ein Land der Versuchung, einen Geldtransport zu überfallen»

Geldtransporte in der Schweiz gehören zu den am wenigsten gesicherten Europas. Die Räuber kennen ihre Mängel und verstehen es, diese auszunützen. Mohamed Dja Daouadji, ein 47-jähriger Franzose, sass zehn Jahre im Gefängnis wegen Raubes. In seinem Buch mit dem Titel «Ich war ein Bankräuber» erzählt der ehemalige Verbrecher seine Geschichte und zeigt Reue.

In einem Interview mit der Sendung «Mise au Point» des Westschweizer Fernsehens (RTS) sagte er: «Die Schweiz ist ein Land der Versuchung, einen Geldtransport zu überfallen. In Frankreich ist es fast unmöglich geworden, Geldtransporte anzugreifen. Die Räuberbanden sind in die Schweiz umgezogen.»

In Frankreich werden laut Daouadji in der Nacht keine Geldtransporte mehr durchgeführt. «Nachts ist der ideale Moment für Räuber. Keine Zeugen, keine Hindernisse. Es ist einfacher, einen Coup zu landen.»

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(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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