Gretchenfrage: Wie stark sollen Frauen in der Politik gefördert werden?
Die Sozialdemokratische Partei möchte nur Frauen und idealerweise Mütter für die Nachfolge von Simonetta Sommaruga in der Schweizer Regierung nominieren. Mit seiner Kandidatur gegen den Willen der Mutterpartei hat ein SP-Ständerat eine Debatte über Diskriminierung ausgelöst. Diese macht klar, dass die Frage der Vertretung von Frauen in den höchsten politischen Ämtern die Geister immer noch spaltet.
Mit dem überraschenden Rücktritt von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Ende des Jahres aus der Schweizer Regierung ausscheidet, stellt sich die Frage nach ihrer Nachfolge. Eine Nachfolge, bei der für ihre Partei, die Sozialdemokratische Partei (SP), viel auf dem Spiel steht.
Dies, weil die linke SP sehr auf Kohärenz mit ihren integrativen Werten bedacht ist. Und natürlich auch, weil in knapp einem Jahr die Eidgenössischen Wahlen anstehen.
Die sozialdemokratische Fraktion hat am letzten Freitag über die Anzahl der Kandidat:innen und die Kriterien für das Ticket entscheiden. Die Namen werden Ende dieser Woche bekannt gegeben. Die Wahl findet am 7. Dezember statt.
Nach der Bekanntgabe des Rücktritts der Bernerin Sommaruga hatte die SP-Führung ihren Wunsch geäussert, der Bundesversammlung ein Ticket mit zwei Frauen zu präsentieren. Sprich: Männliche Kandidaten waren ausgeschlossen.
Diese Positionierung kann rein mathematisch betrachtet werden: Die SP verfügt derzeit über zwei Sitze im Bundesrat. Einer wird seit 2012 von einem Mann, Alain Berset, besetzt, der vorläufig bleibt. Der andere wurde zwölf Jahre lang von einer Frau besetzt und sollte daher nach einer paritätischen Logik wieder von einer Frau eingenommen werden.
Doch damit waren nicht alle einverstanden. Der Zürcher Ständerat Daniel Jositsch, der den rechten Flügel der SP vertritt, kritisierte erst den Vorentscheid des Parteipräsidiums. Dann gab er seine Bereitschaft bekannt, sich um die Nachfolge Sommarugas zu bewerben.
Jositsch sprach sich für eine gleichberechtigte Vertretung von Frauen und Männern aus, kritisierte aber das Vorgehen der SP-Spitze: «Es hat nichts mit Gleichberechtigung zu tun, wenn man sagt, dass Männer nicht kandidieren dürfen.»
Mit seiner Meinung war er nicht allein. Jositsch und Mitstreitende plädierten für ein SP-Dreierticket, bei dem höchstens ein Kandidat männlich sein darf.
Für einen Teil der Politiker:innen und Journalist:innen ist der Ausschluss von Männern von vornherein nicht nur ein «Fehler», der die Ambitionen qualifizierter Kandidaten frustrieren würde, sondern vor allem eine «undemokratische», «diskriminierende» und «verfassungswidrige» Strategie. Es ist auch eine «Beleidigung der Frauen» und «eine neue Bevormundung, die ihren Namen nicht nennt», argumentiert eine Kolumnistin der Zeitung Le Temps.
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Frauen immer noch unterrepräsentiert
In den Medien entgegnete die Basler Ständerätin Eva Herzog, die ebenfalls für die Nachfolge von Sommaruga kandidiert, dass sich die Führungspositionen nicht auf magische Weise vermehrten. «Die Förderung von Frauen hat zur Folge, dass es weniger Platz für Männer gibt», sagt sie. «Ich finde es schwierig, dies als Diskriminierung zu bezeichnen».
Die Rede von «Quotenfrauen» ist nicht neu, aber «ohne Quoten ändert sich nichts», sagt Sabine Kradolfer, Projektleiterin für Chancengleichheit und Diversität und Mitherausgeberin des 2021 erschienenen Buchs «Frauen und Politik in der Schweiz».
Sie hält die Entscheidung der SP für eine «Ausgleichsmassnahme», die notwendig sei, um eine gerechte Vertretung der Geschlechter in der Regierung zu gewährleisten. Das sei mit dem SP-Programm konform, denn der Vorentscheid verhindere, dass Energie in Kandidaturen verschwendet werde, die keine Aussicht auf Erfolg hätten.
Für die Gleichstellungsexpertin sind die Argumente gegen ein reines Frauenticket vor allem Ausdruck radikaler gesellschaftlicher Veränderungen. «Man kann verstehen, dass es radikal ist, Männern, die alles dafür getan haben, um einmal in die Regierung zu kommen, auf später zu vertrösten», räumt sie ein. Kradolfer erinnert jedoch daran, dass Frauen bis vor einigen Jahren genau das erlebt haben.
In der Geschichte der modernen Schweiz gehörten der Regierung bisher 110 Personen an; 37 davon seit 1971, dem Jahr, in dem die Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten. Seitdem sassen neun Frauen in der Exekutive des Landes.
Obwohl es noch nie so viele Frauen im Bundesparlament gab, sind sie dort immer noch unterrepräsentiert.
Dies ist in allen politischen Institutionen der Fall, wie der Blick auf die Ebene der Kantone zeigt.
Mutter und Bundesrätin?
Die zwei jungen Mitglieder des Co-Präsidiums der SP haben eine klare Vorstellung von der perfekten Kandidatur. Simonetta Sommaruga sollte nicht nur durch eine Frau ersetzt werden, sondern ihre Nachfolgerin sollte idealerweise eine Mutter von Kindern im Schulalter sein, wie dies aktuell in Finnland oder in Neuseeland der Fall ist.
In der Vorentscheidung der Parlamentsfraktion am letzten Freitag erhielt Jositsch eine Absage. Damit ist noch ein Frauen-Trio im Rennen, bestehend aus Eva Herzog, der Bernerin Evi Allemann, die der Kantonsregierung angehört, sowie der jurassischen Ständerätin Elisabeth Baume-Schneider. Alle drei verfügen über langjährige Erfahrung in politischen Ämtern auf kantonaler und nationaler Ebene. Aber nur eine, Evi Allemann, ist Mutter von kleinen Kindern.
Ein Regierungsmitglied mit unterhaltspflichtigen Kindern wäre eine Schweizer Premiere. Alain Berset beispielsweise kam als Vater dreier Kinder in den Bundesrat, von denen das jüngste zwei Jahre alt war.
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Frauen in der Schweizer Politik sind noch lange nicht am Ziel
Denn genau dies ist die zweite grosse Frage, welche die SP-Parteispitze intern, aber vor allem bei der politischen Gegner:innenschaft ausgelöst hat: Ist ein Familienleben wirklich unvereinbar mit dem Amt in der Schweizer Regierung? Oder wird dieses Dilemma nur Frauen auferlegt?
Eva Herzog ist dieser Meinung. In einem Interview erklärte sie, dass sie, als ihre Kinder noch klein waren, von den meisten Journalist:innen zu diesem Thema befragt worden sei. Auch Evi Allemann wurde kürzlich mit einer ähnlichen Frage konfrontiert.
Buchautorin Kradolfer schränkt jedoch ein. Sie betont: «Bundesrätin oder Bundesrat zu sein ist ein sehr anspruchsvolles Amt. Man ist nicht ersetzbar, der Tag geht oft bis in die Abendstunden und die Arbeit ruft auch an Wochenenden. Das kann kompliziert sein, wenn man Angehörige zu betreuen hat.» Auch Männer hätten schon auf eine Kandidatur verzichtet und dies mit ihren familiären Verpflichtungen begründet.
Strukturelle Ungleichheiten
Dennoch kann die Frage nach der Stellung der Frauen in der Politik nicht losgelöst von den Ungleichheiten betrachtet werden, die in der gesamten Schweizer Gesellschaft bestehen bleiben.
Kradolfer stellt fest, dass die traditionelle Rollenverteilung in der Familie – wo der Mann das Geld bringt und die Frau unterstützend wirkt – immer noch sehr verbreitet ist. «Zurzeit haben wir nicht die Strukturen, die es beiden Elternteilen ermöglichen würden, in hohen Positionen zu funktionieren».
Die Schweiz schneidet im internationalen Vergleich immer noch sehr schlecht ab, wenn es um familienexterne Kinderbetreuungseinrichtungen geht. Die Kitas zählen zu den teuersten der Welt und sind nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind, um die Nachfrage zu decken. Dazu dauert der Vaterschaftsurlaub lediglich zwei Wochen.
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Warum Schweizer Frauen in der Teilzeit-Falle stecken
Wenn jemand der Familie bei der Karriere in den Hintergrund treten muss, ist es ist dies nach wie vor meist die Frau. In der Schweiz arbeiten sechs von zehn erwerbstätigen Frauen «nur» Teilzeit – eine europaweit rekordverdächtige Quote. Dagegen arbeiten nur 18% der Männer, also weniger als ein Fünftel, nicht Vollzeit. Und in Haushalten mit Kindern übernehmen die Mütter immer noch den Grossteil der Hausarbeit.
Die SP setzt darauf, dass gerade eine Bundesrätin und junge Mutter wichtige Signale aussenden könnte. Kradolfer warnt jedoch davor, die ganze Last der Gleichstellungsthemen einer einzigen, zum Symbol aller Hoffnungen erhobenen Frau aufzubürden, wie dies bei den ersten Frauen in der Politik geschehen sei.
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