Griechenland-Europa: Existenzielle Fragen
Das griechische Referendum zu den EU-Gipfel-Beschlüssen stellt den Plan zur Krisenbewältigung in Frage. In der EU herrscht Konsternation. Für die Schweizer Presse geht es um existenzielle Fragen – für Europa, Griechenland und die Demokratie.
«Papandreous Coup verstört Märkte und Europapolitiker» titelt der Zürcher Tages-Anzeiger, «Athens Schachzug überrascht die EU» lautet die Schlagzeile in der Neuen Zürcher Zeitung, «Das Risiko des Chaos» heisst es gross in der Westschweizer Zeitung Le Temps, und noch weiter geht der Blick: «Ist Papandreou verrückt oder ganz schön clever?»
Für die NZZ spielt der griechische Regierungschef Papandreou «mit hohem Einsatz». Hinter der Ankündigung eines Referendums stecke vor allem politisches Kalkül.
«Dass Papandreou in dieser schwierigen Zeit die politische Verantwortung für die harten Sparmassnahmen nicht alleine tragen will, ist verständlich. Er steht mit dem Rücken zur Wand. Vor diesem Hintergrund ist die Idee eines Referendums ein letzter Versuch, die Opposition doch noch zur Kooperation zu bewegen», kommentiert die NZZ.
Vor dem Chaos?
Pessimistisch tönt es in der Westschweizer Presse. Für die Freiburger Zeitung La Liberté hat Papandreous Ankündigung des Referendums über den Rettungsplan für Griechenland die Eurozone «erneut brutal in den Sturm getaucht». Das Blatt spricht von «einem verrückten Vorhaben eines Griechenlands am Rand des Abgrundes».
Schwarz sieht Le Temps und befürchtet im Kommentar «einen chaotischen Bankrott Griechenlands, der sich in der ganzen Euro-Zone ausbreiten und den Rest des Planeten anstecken könnte. Eine Art Lehman Brothers auf Staatsebene. Das Chaos». Und für die Waadtländer Zeitung 24 heures «spielt Griechenland mit den Nerven der Europäer».
Für die Neuenburger Zeitung L’Express befindet sich Griechenland «zwischen dem Hammer und dem Amboss». Die neue Wende sei «einer griechischen Tragödie würdig», weil dieser Entscheid erneut das Schicksal des Landes erschüttere, kommentiert das Blatt.
Viele Griechen hätten schlicht und einfach kein Geld mehr, um ihre Rechnungen zu bezahlen. «Plötzlich stellt sich Gewalt ein. Der sozialistische Ministerpräsident Papandreou ist zwischen dem europäischen Hammer und dem Amboss der Strasse», so L’Express.
Es geht auch um Demokratie
Für die Aargauer Zeitung geht es in Griechenland vordergründig um eine ökonomische Frage. «Im Hintergrund aber steht die Frage, wer das Land regiert.»
Der Zürcher Tages-Anzeiger und DerBund aus Bern sehen im Schritt Papandreous «einen mutigen Befreiungsschlag». Der Regierungschef habe in einer Zwangslage zu einem urdemokratischen Instrument gegriffen: der Volksabstimmung. «Das Volk soll entscheiden, ob es die brutalen Einschnitte des neuen EU-Rettungspakets ablehnen will, oder ob es den Euro behalten möchte. Beides geht nicht.»
Auch die EU müsse an der demokratischen Klärung dieser Fragen gelegen sein, kommentieren Tagi und Der Bund. Und weiter: «Doch es geht hier nicht nur um die politische Existenz Papandreous, nicht nur um die Zukunft des EU-Projekts schlechthin, falls der Euro scheitert. Auch die Griechen und Griechinnen stehen vor der grundlegenden Frage, ob sie ihr Leben ändern wollen: Sie müssen ihre Gewohnheiten, ihre Einstellungen gegenüber dem Staat und der Gemeinschaft ändern, wenn sie die Hilfe der EU weiter beanspruchen wollen. Darüber sollten die Griechen selbst entscheiden dürfen.»
Gar «begeistert» von diesem Referendum ist Charles Wyplosz, Wirtschaftsprofessor am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien und Entwicklung. Im Interview mit swissinfo.ch sagt er: «Ich bin sehr geschockt über die nutzlosen Sparmassnahmen, die man den Griechen auferlegt hat. Die Entscheide fielen auf sehr undemokratische Weise und wurden der griechischen Regierung auferlegt – und deren Souveränität verletzt. Das Referendum ist eine Gelegenheit, ein Element von Demokratie in einen Prozess einzubringen, der aussergewöhnlich technokratisch war.»
«Zeit der Diktatoren»
Provokative Worte spricht der als rechtskonservativer EU-Gegner bekannte Chefredaktor der Basler Zeitung Markus Somm. Unter dem Titel «Zeit der Diktatoren» kommentiert er: «Griechenland, ein armes Land, das von seiner glänzenden Vergangenheit lebt, aber an einer lausigen Gegenwart scheitert, macht sich daran, einen der gewalttätigsten Sparpläne seiner Existenz durchzusetzen. Ministerpräsident Papandreou, ein Sozialist, möchte darüber das Volk entscheiden lassen. Das verblüfft Europas Eliten und versenkte die Börsen der Welt in den Orkan.»
Früher sei in Europa Protest aufgebrandet, wenn ein König seine unzufriedenen Untertanen von der Kavallerie habe niedersäbeln lassen. Heute breite sich Entsetzen aus, wenn ein Regierungschef ein demokratisches Referendum anstrebe, schreibt der BAZ-Chefredaktor.
«Das ist es, was Europa bedrücken muss: der Rückgang an Demokratie.» Zuweilen scheine es ihm, «als ob wir in eine neue Epoche der Restauration einträten. Jener reaktionären Zeit nach der Französischen Revolution, als eingesperrt wurde, wer ein Referendum verlangte. Noch hat man Papandreou nicht verhaftet. Vielleicht erleben wir auch das. Weil er das einzig Richtige getan hat».
Anfang Woche hat der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou überraschend angekündigt, das zweite Rettungspaket für sein Land dem Referendum zu unterstellen, das heisst dem Volk vorzulegen.
Die Finanzmärkte haben darauf mit Kurseinbrüchen reagiert.
Und die EU-Politiker reagierten perplex, denn dieser Zug war nicht abgesprochen.
Der Entscheid vermag zwar vielleicht die Position von Papandreou innenpolitisch zu stärken, international jedoch werden die Kapitalmärkte dadurch sicher nicht – wie eigentlich bezweckt – beruhigt.
Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland das Euroland verlässt, steigt mit dem Referendum.
Die Griechen können nicht gleichzeitig den Euro behalten und das Rettungspaket ablehnen.
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