Grosser Streit um kleinen Aufkleber
Die geplante Erhöhung der Jahres-Vignette zur Benutzung der Schweizer Autobahnen von 40 auf 100 Franken wirbelt viel Staub auf. Nach einem Referendum kommt die Vorlage nun im November vors Stimmvolk. Das Thema wird auch im Ausland diskutiert – allerdings unterschiedlich gewichtet.
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Drei verschiedene Systeme
«Ich bin mindestens einmal im Jahr in der Schweiz oder fahre durch die Schweiz», sagt Bernhard Schlag, Professor für Verkehrspsychologie an der Technischen Universität Dresden.
«Die Autobahnen sind sehr gut, vor allem, wenn man den Aufwand betrachtet, mit den vielen Tunnels und Bergstrecken. Das ist eine grosse Leistung, welche die Schweiz erbringt – und die will natürlich finanziert sein.»
Der deutsche Verkehrs-Experte hat deshalb durchaus Verständnis für den Preisaufschlag, der gegenwärtig im Inland für rote Köpfe und heisse Diskussionen sorgt.
Auch wenn ihm dies persönlich «auch ein bisschen weh» tut. «Von 40 auf 100 Franken ist ein erheblicher Schritt. Das ist schon mutig», betont er.
Konkret stehen sich in der Schweiz zwei Lager gegenüber, seit Regierung und Parlament in diesem Frühjahr beschlossen haben, die Vignette auf 100 Franken anzuheben und neu für 40 Franken eine Zweimonats-Vignette einzuführen.
Die Befürworter aus dem politisch linken bis hin zum bürgerlichen Lager argumentieren, ohne die zusätzlichen Einnahmen sei die Nationalstrassen-Infrastruktur nicht mehr zu finanzieren, besonders, weil das Autobahnnetz Anfang 2014 durch die Übernahme kantonaler Strassen um zusätzliche 376 Kilometer auf rund 2200 Kilometer erweitert wird.
Die Preiserhöhung diene dazu, die Qualität und Sicherheit der Schweizer Autobahnen zu erhalten und notwendige Umfahrungen bauen zu können, betonen die Befürworter.
Ein überparteiliches Komitee hauptsächlich aus rechtsbürgerlichen Kreisen hat erfolgreich das Referendum dagegen eingereicht und damit die Vorlage an die Urne gebracht.
Für die Gegner ist die Preiserhöhung um 150 Prozent «staatliche Abzockerei». Die Nationalstrassen könnten mit den heutigen Abgaben und Gebühren auch künftig problemlos finanziert werden, lautet ihr Argument. Heute würden zu viele Gelder in die allgemeine Bundeskasse und den öffentlichen Verkehr «zweckentfremdet».
Die Vignette für die Benützung der Schweizer Autobahnen wurde 1985 eingeführt. Sie kostete 30 Franken für ein Jahr. 1995 wurde die Gebühr auf 40 Fr. erhöht.
Die Erträge fliessen in die Strassenkasse des Bundes und werden ausschliesslich für Bau, Betrieb und Unterhalt der Nationalstrassen (Autobahnen) eingesetzt.
Weil zu den heute etwa 1800 km Nationalstrassen auf Anfang 2014 zusätzlich 376 km bestehende kantonale Strecken ins Netz aufgenommen werden, haben Bundesrat (Landesregierung) und Parlament entschieden, den Preis voraussichtlich ab 2016 auf 100 Franken pro Jahr anzuheben. Neu soll eine Zweimonats-Vignette für 40 Fr. erhältlich sein.
Dagegen hat ein überparteiliches Komitee mit 107’424 gültigen Unterschriften erfolgreich das Referendum ergriffen (mindestens nötig wären 50’000). Am 24. November 2013 befindet deshalb das Stimmvolk über die Vorlage.
(Quelle: Bundesverwaltung)
Zuerst einmal solle eine grundsätzliche Diskussion über den Ausbau des Strassennetzes geführt werden, heisst es. Zudem sei eine teurere Vignette für viele kleine und mittelgrosse Unternehmen (KMU) mit einer Autoflotte «untragbar». Versicherungen, Gewerbe und Aussendienst-Mitarbeiter seien auf das Auto angewiesen.
Auch die beiden grossen Automobilverbände, der Automobil Club der Schweiz (ACS) und der Touring Club Schweiz (TCS), kämpfen gegen die Preiserhöhung. Sie fordern eine Neugestaltung der gesamten Strassenfinanzierung.
«Qualität hat ihren Preis»
Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern zeigt: Die Schweiz würde mit der 100-Franken-Vignette etwa im Mittelfeld zu liegen kommen, vergleichbar etwa mit Österreich.
Rasch teurer kann es in Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien werden, die verursacherabhängige Mautsysteme kennen, bei denen pro gefahrene Strecke abgerechnet wird.
Der Zustand der Schweizer Autobahnen sei «besser als der europäische Schnitt, was Schlaglöcher und Wellen angeht», sagt Martin Fellendorf, Professor für Strassen- und Verkehrswesen an der Technischen Universität Graz. Auch er findet eine Erhöhung der Jahresgebühr in der Schweiz auf 100 Franken gerechtfertigt.
Kein Thema in Österreich – dafür in Deutschland
Die Diskussion um die Vignette in der Schweiz sei in Österreich allerdings kaum ein Thema, sagt Fellendorf. «Die Grundmaut ist bei uns höher als in der Schweiz, etwa 80 Euro. Das wird voll und ganz akzeptiert.» Und die Kosten für ein Auto seien um ein Vielfaches höher, «so dass das ‹Pickerl› unterdessen nicht mehr stark in der öffentlichen Diskussion ist».
Ganz anders in Deutschland, wo die Vignette ein «ganz massives Thema» sei, wie Bernhard Schlag betont. Der Grund: Deutschland, wo seit jeher gratis auf Autobahnen gefahren werden kann, überlegt sich gegenwärtig die Einführung einer Benützungsgebühr, «entweder als Vignette oder fahrleistungsbezogen».
Allerdings sei in Deutschland der Zeitpunkt für die Einführung von Strassengebühren aus gesellschaftlicher Sicht «sehr spät», sagt Schlag. «Die Leute sind es ewig lange schon gewohnt, das die Strassenbenutzung frei ist. Doch das ist eine Illusion.»
Er würde sich wünschen, dass europäische Länder, die noch keine Autobahngebühren erheben, «ähnlich wie die Schweiz reflektieren, was die Strassen kosten und das verstärkt auch dem Nutzer der Strassen anlasten», so dass es zu einer «Homogenisierung» zwischen den verschiedenen Ländern kommen könnte. «Gerne auf Schweizer Niveau», so Schlag.
Auch Kay Mitusch, Professor für Netzwerkökonomie am Karlsruher Institut für Technologie, meint, der Preis sei zwar recht hoch, aber gerechtfertigt. Allerdings werde er bei vielen Autofahrern zu Überlegungen führen, andere Routen vorzuziehen.
«Und in Deutschland wird der Schweizer Preisaufschlag wohl den Wunsch nach einer eigenen Vignette verstärken.»
Für Mitusch ist die Vignette für die Schweiz die richtige Lösung: «Es ist ein System ohne grosse Systemkosten», betont er.
Eine Frage des Systems
In Italien wird die mögliche Erhöhung der Vignette ebenfalls beobachtet. Der Automobile Club d’Italia (ACI) etwa ist der Meinung, das Auto sei «kein Instrument für eine zusätzliche Besteuerung». Mit der geplanten Preiserhöhung würden auch die Autofahrer in der Schweiz «wie Zitronen ausgepresst», schreibt er in einer Mitteilung.
Die Europäische Union (EU) hat angekündigt, mit der Schweiz Gespräche über die Einführung einer Kurzzeit-Vignette für eine Woche oder 10 Tage aufzunehmen.
Alle anderen Länder mit Vignettenpflicht bieten die Möglichkeit an, ihre Autobahnen für kurze Zeit zu einem tieferen Preis zu nutzen.
Die Finanzierung der Schweizer Nationalstrassen-Infrastruktur sei vielmehr über einen neu zu schaffenden Strasseninfrastrukturfonds abzuwickeln, wie dies die beiden grossen Schweizer Automobilverbände ACS und TCS forderten. Dieser würde grösstenteils über die Mineralölsteuer finanziert.
Grundsätzliche Bedenken gegenüber dem Vignetten-System äussern auch Schlag und Fellendorf, weil sie eine Pauschal-Abgabe für die unbeschränkte Benützung einer gewissen Infrastruktur darstelle. Beide Verkehrs-Experten würden ein dem Verursacherprinzip entsprechendes System vorziehen, bei dem gemäss der gefahrenen Autobahnkilometer bezahlt wird.
«Wenn man die Nutzung mitsteuern will, dann ist das fixe Vignetten-System nicht das Richtige», gibt Martin Fellendorf zu bedenken. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten sei die Erfassung der Fahrtdaten kein Problem mehr. «Man könnte damit sowohl den Strassentyp wie auch die Zeiten steuern.»
Auch Schlag findet es «sehr bedauerlich», dass durch die Vignette keine Lenkungswirkung erzielt werden kann. Eine solche würde bedeuten, «die Leute weg vom individuellen Kraftfahrzeug zu bringen und auf andere Verkehrsmittel oder zumindest auf andere Zeiten oder Strecken umzuleiten», sagt der Verkehrspsychologe. All diese Möglichkeiten habe man mit dem Vignetten-System nicht. «Die Frage ist immer: Was will man?»
Die bisherige Vignette ist ein Kleber, der an der Frontscheibe angebracht werden muss – und oft nur mühsam wieder abzulösen ist.
Verkehrsministerin Doris Leuthard hat kürzlich angekündigt, den Kleber «in den nächsten Jahren» durch eine elektronische Lösung zu ersetzen.
Laut einem Bericht der Zollverwaltung kennen bereits mehrere europäische Länder elektronische Abgabe-Systeme.
Die Vorteile: Einfacherer Betrieb und Kontrolle, Einsparungen und weniger Missbrauch.
Die Zollverwaltung rechnet jährlich mit 30 Mio. Fr. Einbussen wegen Fälschungen und Mehrfachverwendung von Vignetten.
(Quelle: Zentralschweiz am Sonntag)
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