Eine fast bedingungslose Milliarde für die EU
Das Schweizer Parlament lässt seine Muskeln doch nicht spielen: Wenn die EU die Schweiz nicht diskriminiert, soll der Bund 1,3 Mrd. Franken an die EU zahlen. Nach der kleinen sagt auch die grosse Parlamentskammer im Grundsatz Ja zu einer weiteren Kohäsionsmilliarde. Von einigen Schweizer Medien gibt es dafür Applaus.
Mit den Verhandlungen um ein Rahmenabkommen (auch institutionelles Abkommen genannt), das den bilateralen Weg zwischen der Schweiz und der EU derzeit gefährdet, hat der Kohäsionsbeitrag nur indirekt zu tun.
Aber der Beitrag wird als Signal betrachtet, das den Verlauf der Verhandlungen in die eine oder andere Richtung beeinflussen könnte.
Mit den 1,3 Mrd. Franken soll die Schweiz in den nächsten zehn Jahren dazu beitragen, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten zwischen alten und neuen EU-Ländern zu reduzieren. Neben den Staaten im Osten der EU werden auch EU-Länder Geld erhalten, die besonders von Migration betroffen sind.
Die EU betrachtet das Geld als Eintrittspreis zum EU-Binnenmarkt. In der Schweizer Lesart ist der Beitrag freiwillig. Aber je nachdem ob die Schweiz bezahlt oder nicht, schafft sie in Brüssel Goodwill oder Konfrontation.
Um diese taktische Frage ging es in der Debatte des Nationalrats am Montagabend.
Eine starke Minderheit im Parlament wollte bei der Vergabe des Geldes rote Linien ziehen, quasi als Retourkutsche für Massnahmen der EU, die von der Schweiz als diskriminierend empfunden werden. Gemeint sind zum Beispiel Drohungen, der Schweiz die Börsenäquivalenz nicht mehr zu gewähren, oder sie nicht mehr uneingeschränkt am EU-Forschungsprogramm Horizon 2020 und an Erasmus Plus (Förderung der Berufsbildung) teilhaben zu lassen.
«Demnach ist es auch legitim, das Rahmenabkommen mit dem Kohäsionsbeitrag zu verknüpfen.» Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP).
«Die EU verknüpft das Rahmenabkommen mit Vorlagen wie der Börsenäquivalenz oder mit Horizon. Demnach ist es auch legitim, das Rahmenabkommen mit dem Kohäsionsbeitrag zu verknüpfen», sagte zum Beispiel Elisabeth Schneider-SchneiterExterner Link im Namen der CVP-Fraktion (Christlichdemokratische Volkspartei).
Zwingt uns EU in die Knie?
Bedingungslos abgelehnt wird die Kohäsionsmilliarde von der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die auch ein Rahmenabkommen mit der EU verhindern will. SVP-Fraktionssprecher Roger KöppelExterner Link malte den Teufel an die Wand: «Beim Rahmenabkommen spricht die EU von einem Freundschaftsvertrag, aber sie will uns zwingen, diesen ‹Freundschaftsvertrag› zu unterschreiben. Sie sagt: Wenn ihr diesen Freundschaftsvertrag nicht unterschreibt, werden wir euch weiterhin unter Druck setzen, werden wir euch gleichsam in die Knie zwingen.» Das gleiche gelte für die Kohäsionsmilliarde, mahnte Köppel.
Aber moderate Voten, wie etwa jenes von Laurent WehrliExterner Link, Fraktionssprecher der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP. Die Liberalen) fanden mehr Gehör: Es sei ein Solidaritätsbeitrag, der für die Beziehungen der Schweiz zu den Ländern der EU wichtig sei, sagte Wehrli. Der Beitrag sei als solcher zwar beeindruckend, aber auch zu relativieren.
«Die Hebelwirkung oder Verhandlungsmasse oder gar Drohkulisse der Kohäsionsbeiträge werden stark überschätzt.» Martin Naef (SP)
Er macht nämlich nur 0,35% der gesamten Kohäsionsgelder der EU aus. Und FDP-Nationalrat Hans-Peter PortmannExterner Link rechnete vor, weshalb der Beitrag nicht «übertrieben» sei. «Wir zahlen gerade einmal 15 Franken pro Einwohnerin und Einwohner, wenn wir diese Zahlung freigeben. Aber der Wert der bilateralen Verträge beträgt bei allen von uns im Portemonnaie jährlich 4500 Franken.» Selbst das kleine Liechtenstein, das auch nicht EU-Mitglied sei, bezahle 25 Franken pro Einwohnerin und Einwohner. Und das Nicht-EU-Mitglied Norwegen bezahle sogar 52 Franken pro Kopf der Bevölkerung.
Deshalb warnte Martin NaefExterner Link, Sprecher der Sozialdemokratischen Fraktion (SP), davor, den Beitrag in den Verhandlungen ums Rahmenabkommen zum Faustpfand machen zu wollen. «Die Hebelwirkung oder Verhandlungsmasse oder gar Drohkulisse der Kohäsionsbeiträge werden stark überschätzt.»
Schliesslich entschied sich die Mehrheit der Volksvertreter im Grundsatz für ein nicht ganz vorbehaltloses Ja, nämlich nur bei Wohlverhalten der EU. Konkrete Bedingungen will das Parlament aber nicht stellen.
Mehr Zeit und Spielraum
Weil die grosse Kammer eine andere Verteilung des Betrags beschloss – sie will den Beitrag für die von der Migration betroffenen Staaten um 190 Mio. auf 380 Mio. erhöhen und jenen für die Ost-Staaten um 190 Mio. auf 857 Mio. kürzen – geht das Geschäft in die sogenannte Differenzbereinigung der kommenden Sessionen.
Mit dem Entscheid verschafft das Parlament dem Bundesrat nun mehr Zeit und Spielraum in den Verhandlungen ums Rahmenabkommen
«Ein taktisch geschickter Zug», kommentiert die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) das Spiel auf Zeit. «Innenpolitisch wäre es kaum zu rechtfertigen, den Rahmenkredit [Kohäsionsbeitrag, N.d.R.] zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorbehaltlos zu genehmigen.»
Damit habe sich die Schweiz alle Optionen für die Verhandlungen ums Rahmenabkommen offengehalten, heisst es auch in einem Kommentar, der in mehreren Tageszeitungen erscheint. «Es wäre ein Eigentor, die Zahlung der Kohäsionsmilliarde an die EU mit engen roten Linien zu versehen.»
Für Kohäsion und Migration
Der zweite Schweizer Beitrag von rund 1,3 Mrd. Franken über 10 Jahre ist neu aufgeteilt in je einen Rahmenkredit «Kohäsion» und «Migration». Die Programme werden auf fünf Ziele ausgerichtet:
- Wirtschaftswachstum und Sozialpartnerschaft fördern, (Jugend-) Arbeitslosigkeit reduzieren
- Migration steuern, Integration fördern sowie öffentliche Sicherheit erhöhen
- Umwelt und Klima schützen
- Sozial- und Gesundheitssysteme stärken
- Bürgerengagement und Transparenz fördern
(Quelle: EDAExterner Link)
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