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Grundschulung für Flüchtlingskinder im Schnelldurchlauf

Unterricht in zwei Gruppen: Die älteren Schülerinnen und Schüler des Asylzentrums Zürich werden in einem, die jüngeren im anderen Raum unterrichtet. Keystone

Im Asylzentrum Zürich geht alles schneller: Asylsuchende sollen innerhalb von 140 Tagen Bescheid erhalten, ob sie bleiben dürfen oder nicht. Das Pilotprojekt des Bundes wirkt sich auch auf die Kinder aus: Sie erhalten einen Basis-Unterricht im Schnellverfahren.

«Bär, Bärrrrr», tönt es von den drei Kindern, die im Schneidersitz auf dem Boden sitzen, als ihnen die Lehrerin aus einem Buch ein Bild von Meister Petz zeigt. Deutsch ist neu für sie, denn ihre Muttersprache ist arabisch.

Ihre Schulzeit in einem Industriegebäude nahe des Asylzentrums Juch in der Stadt Zürich dauert bis fünf Monate. Sie kann aber auch kürzer sein. Die Kinder sind ebenfalls Teil des beschleunigten Asylverfahrens, das der Bund seit Anfang Jahr in Zürich erstmals praktiziert.

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Im Schulunterricht in den zwei eigens dafür hergerichteten Räumen sollen die Kinder aus dem Zentrum Juch Basiskenntnisse erwerben und sich an die Atmosphäre in einem Schweizer Klassenzimmer gewöhnen können. Dies für den Fall, dass der Asylantrag ihrer Eltern gutgeheissen wird.

«Nicht alle sind zuvor in die Schule gegangen, einige können nicht schreiben und sind doch schon sechs oder sieben Jahre alt. Jetzt müssen sie langsam beginnen», sagt Gynna Zuberbühler, eine der beiden Lehrkräfte, während sie der Kinderschar die Tierbilder aus einem Buch zeigt.

Verkürzte Asylverfahren

Anfang Januar 2014 hat der Bund im Asylzentrum Zürich ein Pilotprojekt zur Beschleunigung der Asylverfahren gestartet. Diese dauern teils Jahre, was von allen politischen Seiten kritisiert wird.

Im Zentrum des Projektes steht der Grundsatz, dass es für die Betroffenen und für das Gastland am besten sei, die Zeit des Verfahrens so kurz wie möglich zu halten.

Vorgabe ist eine Spanne von 140 Tagen oder knapp fünf Monaten.

Zu diesem Zweck erhalten die Antragsteller bei der Erstellung ihrer Dokumente kostenlose juristische Beratung. Aufgrund der verbesserten Unterlagen und Nachweise sollen die Behörden schneller entscheiden können.

Fünf Monate nach dem Start zog die Regierung der Schweiz eine erste, positive Bilanz. So konnten mehr Fälle behandelt werden als erwartet, nämlich deren 669. In 319 wurde entschieden, in 44 Fällen Asyl gewährt.

Das Projekt mit dem Asylzentrum Zürich läuft bis Ende 2015.

Im ersten Halbjahr 2014 wurden in der Schweiz 10’278 Asylanträge gestellt.

2013 waren es gesamthaft 21’465 Asylanträge gewesen.

Schulunterricht in Asylzentren gibt es zwar schon seit den 1990er-Jahren. Heute jedoch besuchen die meisten Kinder von Flüchtlingen, die in einem Asylverfahren stecken, eine öffentliche Schule. Das Recht jedes Kindes auf Schulbildung ist in der UNO-Konvention über die Rechte der Kinder verbrieft.

«Der Zugang dieser Kinder zu Bildung könnte unterbrochen sein, wenn sie für eine gewisse Zeit unterwegs sind und aus einem Land kommen, in dem Krieg herrscht, wie momentan in Syrien», sagt Hélène Soupios-David, Projektleiterin beim Europäischen Rat für Flüchtlinge und Exilanten (ECRE), gegenüber swissinfo.ch.

Kleinklasse

Die Schüler erhalten denselben Unterricht wie die Kinder nicht-deutscher Muttersprache an öffentlichen Schulen, sagt Markus Truniger, Leiter der Stelle Interkulturelle Pädagogik an Grundschulen des Kantons Zürich. «Sie haben pro Woche 28 Lektionen, wie alle anderen Schüler auch», sagt er.

Die Kinder seien glücklich, die behelfsmässige Schule besuchen zu können, sagt Gynna Zuberbühler. «Einige schätzen die feste Struktur, die sie ihnen gibt, andere die Ausflüge aufs Land, die wir unternehmen. Und das Klassenzimmer ist wirklich ihr Bereich, nicht derjenige der Eltern.»

«Normal» sei hier nichts, fährt sie fort, jeder Tag verlaufe aufgrund der «grossen kulturellen Unterschiede» und der häufig wechselnden Klassenkameraden anders.

Die Schüler werden in zwei Altersgruppen aufgeteilt und in Grundkenntnissen unterrichtet. Dazu gibt es jeden Tag besondere Aktivitäten, am Freitagvormittag beispielsweise einen Besuch in der Bibliothek.

«Verstoss gegen Grundsätze der Integrationspolitik»

Die Frage, wo Kinder von Asylsuchenden zur Schule gehen sollen, hat in der Schweiz für einige Diskussionen gesorgt.

«In der Schweiz ist umstritten, ob Schüler so früh wie möglich eingeschult werden sollen. Viele Experten sind dieser Meinung, aber das Pilotprojekt stellt ein anderes Modell dar», sagt Soziologieprofessor Claudio Bolzman von der Fachhochschule Westschweiz und der Universität Genf. Diese Kinder nicht in die lokalen Schulen zu schicken, hält er für einen Widerspruch «zur generellen Integrationspolitik, welche die Behörden für Migrantenkinder entwickeln wollen, insbesondere für jene, die länger hier bleiben».

Ihr Zuhause und ihre Freunde zurückzulassen, in ein neues Land zu kommen und sich an die dortige Umwelt zu gewöhnen, ist für die Kinder von Asylsuchenden meist nicht das grösste Problem. «Sie leiden an Traumata, die sie in der Heimat oder unterwegs erlebt haben», sagt Soupios-David.

Im Zürcher Zentrum sind deshalb auch Psychologen im Einsatz. Viele der Flüchtlingskinder kommen aus Ländern wie Eritrea und Somalia, ihre Reise dauerte Wochen und war gefährlich, sie schliefen in überfüllten Räumen, hatten nicht genug zu Essen. Und das alles, um Armut, Bürgerkrieg und Repression zu entkommen.

«Die Lehrpersonen sind keine ausgebildeten Therapeuten. Sie können nicht beides, das ist nicht ihr Job», hält Truniger fest. Das Gewicht im Unterricht liegt in erster Linie auf den Deutschstunden.

Klippen des Interkulturelles Lernens

Zum Job der Lehrer gehöre aber, die vielen und teils grossen Unterschiede zwischen den Schülern zu verstehen, sagt Jörg Keller, Leiter der Abteilung Deutsch als Fremdsprache an der Fachhochschule Zürich. «Es geht darum, Probleme, die aus dem interkulturellen Lernen erwachsen, zu erkennen und respektieren. Und um die Entwicklung des Unterrichts, damit die Schüler gestärkt aus diesem hervorgehen.»

Im Unterricht der Kinder aus dem Zentrum Juch gibt es aber keinen spezifischen Fokus auf ihren Status als Flüchtlingskinder.

Für eine verbesserte Zusammenarbeit könne von Vorteil sein, wenn die Lehrer einen Überblick über die psychologischen Probleme hätten, mit denen Kinder von Flüchtlingen konfrontiert sein könnten, räumt Truniger ein.

«Während des Krieges in Kosovo hatten wir diesen Aspekt berücksichtigt, jetzt aber nicht mehr», sagt er. Jetzt ist jeder Tag in den Unterrichtsräumen des Asylzentrums anders: Schülerinnen und Schüler kommen und gehen, und die Spielzeuge und Bilderbücher der Schule gehen durch viele Hände.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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