Guantanamo: Kalkül und Imagepflege
Die Schweiz erteilt einem als ungefährlich eingestuften usbekischen Guantanamo-Häftling das Aufenthaltsrecht. Dieser Entscheid verrate viel Kalkül und sei eher politisch motiviert als rein humanitär, so der Tenor in der Schweizer Presse.
«Dieser Akt ist zu 10 Prozent humanitär und zu 90 Prozent politisch», schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Er müsse aber deshalb weder heuchlerisch noch falsch sein. Die Vermutung, der Bundesrat habe sich Anfang Jahr mit der neuen US-Regierung wegen des Konflikts rund um die USA gut stellen wollen, liege auf der Hand. Aber das sei nur eine Seite.
«Die grundsätzliche Zusage, einen Beitrag an die Auflösung Guantanamos zu leisten, war eine logische Konsequenz ihrer bisherigen Kritik an Guantanamo», so die NZZ.
Die Berner Zeitung bringt wenig Verständnis auf für die Aufnahme eines Guantanamo-Häftlings. Der Bundesrat mache einmal mehr eine schlechte Falle. Noch vor einem Jahr habe die Schweizer Justizministerin erklärt, die USA müssten dieses Problem selber lösen, ein paar Wochen später habe die Grossmacht wegen der UBS-Steuerhinterziehungsaffäre Druck gemacht. Und jetzt spreche die Regierung von einer humanitären Geste.
«Die Schweiz ist zwar der humanitären Tradition verpflichtet – aber diese wie im vorliegenden Fall überzustrapazieren, ist genauso unnötig, wie ihr abzuschwören. Zumal sie sich ein – wenn auch geringes – Sicherheitsrisiko einhandelt», so die BZ.
Kalkül und Imagepflege
Als «solidarisch eigennützig» titelt die Basler Zeitung den Entscheid des Bundesrats über die Aufnahme von Häftling Nummer 455. Der Usbeke dürfe von Genf aus keine Schadenersatzforderungen an Washington stellen. «So profitieren die USA gleich zweifach: Sie werden eine menschliche Last los – und sparen Geld.»
Aber auch der Bundesrat verrate viel Kalkül, schreibt die BAZ weiter: «Er hilft mit, Guantanamo aufzulösen – und poliert, indem er nach dem Minarettverbot einem Muslim das Aufenthaltsrecht schenkt, das Image auf.
Der Tages-Anzeiger greift in seinem Kommentar das Thema von Sicherheit und Risiko auf, zumal Politiker des rechten Lagers den Aufnahmeentscheid als hochgefährliches Gutmenschentum bezeichnet hatten.
Wenn die innere Sicherheit der Schweiz gewährleistet sei, spreche nichts dagegen, dass die Schweiz ihrer humanitären Tradition gerecht werde, so der Tagi weiter.
«Mit ihrer Geste hilft sie der neuen US-Regierung, das Erbe der unliebsamen Bush-Ära zu beseitigen und den Schandfleck Guantanamo zu schliessen.» Damit leiste die Schweiz auch einen Beitrag, um das ramponierte Völkerrecht wiederherzustellen. «Nach der Minarettabstimmung steht ihr dies gut an.»
Kleinstaat hilft Grossmacht aus der Patsche
Die kleine Schweiz greife dem mächtigen Amerika unter die Arme, weil die Grossmacht nicht in der Lage sei, den Scherbenhaufen, den Ex-Präsident George W. Bush verursacht habe, zusammenzukehren, steht in der Aargauer Zeitung geschrieben.
Dies, obwohl die Schweiz in aller Deutlichkeit erfahren habe, mit welcher Härte und Arroganz Amerika seine Interessen gegen einen Kleinstaat durchzusetzen pflege. «Und ausgerechnet jetzt dürfen die Vereinigten Staaten auf unsere Hilfe zählen – als hätte es den Streit um das Bankgeheimnis nie gegeben.»
Das sei die politische Sicht. Die humanitäre sei eine andere, so das Blatt weiter. «Der betroffene Häftling aus Usbekistan wurde gemäss Behörden zu Unrecht während siebeneinhalb Jahren eingesperrt. Dass ihm die Schweiz die Chance auf ein neues Leben bietet, entspricht unserer Tradition. Wenn er tatsächlich eine reine Weste hat, ist es richtig, ihn aufzunehmen – so wie andere Asylsuchende auch.»
Geste nach hüben und drüben
Die Neue Luzerner Zeitung schreibt von einer «Geste nach West und Ost». Ein Abseitsstehen wäre der Schweiz schlecht angestanden, da sie sich bei jeder Gelegenheit auf die humanitäre Tradition berufe. Doch auch darüber hinaus mache die Aufnahme Sinn, unterstreicht die NLZ.
«Als Geste gegenüber den USA wird sie bestimmt nicht schaden. Das gleiche gilt für die islamische Welt: Nach der Minarettabstimmung bietet sich uns die Gelegenheit, zu zeigen, dass wir nicht einfach von vornherein sämtliche Muslime ablehnen.»
Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch
Die Regierung Obama hatte am 22. Januar 2009 entschieden, das Gefangenenlager in Guantanamo möglichst rasch zu schliessen.
Neben anderen Staaten ersuchten die USA auch die Schweiz, die Aufnahme von Inhaftierten, gegen die keine Anklage erhoben werden konnte, zu prüfen.
Verschiedene Staaten haben bereits Inhaftierte aufgenommen bzw. eine Aufnahme beschlossen.
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