Gute Noten für Schweizer Atomaufsicht
Die Schweizer Atomaufsicht hat auf den AKW-Unfall im japanischen Fukushima vom vergangenen März gut reagiert. Zu diesem Schluss ist eine Gruppe von internationalen Experten gekommen.
Die Expertengruppe der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) traf sich während eines zweiwöchigen Kontrollbesuchs in der Schweiz mit Vertretern des Eidgenössischen Nuklearsicherheits-Inspektorats (Ensi).
Die IAEA-Experten inspizierten zwei der fünf Schweizer Atomkraftwerke und eine Notfallübung in einem weiteren AKW.
Das Ensi halte generell die IAEA-Standards ein, sagte Jean Christophe Niel, Missionsleiter der kontrollierenden Integrated Regulatory Review Service (IRRS) vor den Medien in Brugg. Niel ist auch Chef der französischen Aufsichtsbehörde ASN.
Speziell gelobt wurde die Schweizer Reaktion auf den AKW-Unfall in Fukushima, mit der Errichtung eines Zentrallagers für Notfallausrüstungen sowie der Aufbesserung der Sicherheitsvorkehrungen im Atomkraftwerk Mühleberg im Kanton Bern.
Positive Feststellungen
Das IRRS-Team hob 19 positive Feststellungen («good practices») beim schweizerischen Aufsichtssystem hervor, die anderen IAEA-Mitgliedstaaten empfohlen werden könnten.
Lob gab es für die Ensi-Forderung Atom-Anlagen nachzurüsten und Abläufe à jour zu halten. Gelobt wurde auch die Transparenz durch diverse Dokumente auf der Ensi-Homepage sowie ein gutes internes Management-System, «das die Mitglieder unseres Teams besonders inspiriert hat», sagte Niel gegenüber swissinfo.ch.
«Wie die Leute innerhalb der Ensi Zugang zu Informationen haben, die ihnen ermöglichen, ihre Arbeit korrekt zu machen, ihre Organisation, Dokumentation, das alles ist sehr effizient», so der IRRS-Missionsleiter.
Empfehlungen
Neben den positiven Feststellungen gab es indessen auch Empfehlungen von Seiten der IAEA-Experten. Die Kontrolleure legen der Schweizer Regierung nahe, das Funktionieren des 2009 entstandenen Ensi im Auge zu behalten und gegebenenfalls zu verbessern. Das Ensi soll beim Lizenzieren nuklearer Aktivitäten Bedingungen definieren und auch Vorschriften erlassen dürfen.
Weiterzuentwickeln seien Inspektionen, speziell zu Abfall und Logistik. Empfohlen wurde ferner, dafür zu sorgen, dass bei einem Atomausstieg – was von der Schweizer Regierung im vergangenen Mai beschlossen wurde – weder Betreibern noch der Aufsicht das fachkundige Personal ausgeht.
Ensi-Direktor Hans Wanner begrüsste die IRRS-Feststellungen als «extrem wertvoll». Der Austausch mit Experten aus aller Welt erlaube zu vergleichen und «zu lernen». Speziell «stolz» sei er auf das Lob für die Reaktion auf Fukushima.
Unbeantwortete Fragen
Aber nicht alle sind von der Schweizer Atomaufsicht so beeindruckt wie die IRRS-Mission. Für Geri Müller, Mitglied der Grünen Partei und der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats sowie Vorsitzender der Schweizerischen Energie-Stiftung, ist das Ganze «eine Inspektion unter Freunden», wie er gegenüber swissinfo.ch sagt. «Freunde schauen, was Freunde gemacht haben.»
IRRS-Missionsleiter Niels sei auch Chef der französischen Aufsichtsbehörde ASN, und Atomkraftwerke in Frankreich seien «eine Katastrophe», so Müller. «Wenn also unsere AKW in Ordnung sind, heisst das, dass unsere Standards dieselben sind wie in Frankreich.»
Überdies habe die Mission Fragen, die er ihr geschickt habe, nicht beantwortet, und zwar Fragen über Probleme, die «internationale Standards verletzen». Müller kritisierte Niels Erklärung, wonach solche Fragen nicht zum IRRS-Pflichtenheft gehörten. «So werden die wichtigsten Fragen nicht Teil des IRRS-Berichtes sein, der in drei Monaten vorliegen soll.»
Aus Erfahrungen lernen
Anders sieht es Jim Lyons, IAEA-Direktor für die Sicherheit von Nuklearanlagen. «Die Mission funktioniert auf zwei Arten», sagte er gegenüber swissinfo.ch.
«Einerseits profitiert das Gastland davon, dass es Meinungen von anderen Aufsichtsbehörden hört. Gleichzeitig lernen diese nicht nur Praktiken der Schweiz, sondern auch anderer Länder kennen, die am Tisch sitzen. Sie können Informationen in ihre eigenen Länder zurückbringen und ihnen vielleicht helfen, ihre Praktiken zu ändern.»
Angesichts der Tatsache, dass IAEA-Mitgliedsländer in eigener Regie Kontrollmissionen einladen können und deren Empfehlungen nicht bindend sind, steht die Frage im Raum, ob solche auch nützlich sind.
Hätte Fukushima zum Beispiel verhindert werden können? 2007 hatte eine Mission Japan besucht, aber es gab keine Konsequenzen, wie das sonst üblich ist. Die Empfehlungen der Mission zur Arbeit der japanischen Aufsichtsbehörde waren nicht umgesetzt, als die Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe eintraf.
In Zukunft wird es vielleicht anders sein: Im nächsten Frühjahr wird in Japan eine neue Atomaufsicht ihre Arbeit aufnehmen, und mit der IAEA sind Gespräche in Gang über den Termin eines IRRS-Missions-Besuches.
Offenheit und Ehrlichkeit als Schlüssel
Ensi-Direktor Wanner schreibt auf der Website der Schweizer Atomaufsicht, Offenheit und Ehrlichkeit seien der Schlüssel zum IRRS-Prozess. Er bedauert, dass dies nicht alle Länder anerkennen würden. «Das ist oft mit kulturellen Gründen erklärbar, kann aber nicht gerechtfertigt werden», so der Ensi-Chef.
Jim Lyons von der IAEA sagt gegenüber swissinfo.ch, es seien nicht entwickelte Länder, die IRRS-Besuche wollten. «Viele weniger entwickelte Länder haben uns um einen Kontrollbesuch gebeten, weil sie das als Möglichkeit sehen, ihre Sicherheitsprozesse zu verbessern und ein Feedback von der internationalen Gemeinschaft zu erhalten.»
Oft helfe dies den Aufsichtsbehörden und deren eigenen Regierungsorganisationen, mehr Gelder zu erhalten, weil die internationale Gemeinschaft gekommen sei und gesagt habe: «Ihr müsst das unterstützen, wenn ihr es mit der Sicherheit ernst meint.»
Die Schweiz hat 5 Atomkraftwerke, die rund 40% der Eneregie des Landes produzieren:
Beznau I
Inbetriebnahme: 1969
Vom Netz: 2019
Beznau II
Inbetriebnahme: 1972
Vom Netz: 2022
Mühleberg
Inbetriebnahme: 1972
Vom Netz: 2022
Gösgen
Inbetriebnahme: 1978
Vom Netz: 2029
Leibstadt
Inbetriebnahme: 1984
Vom Netz: 2034
Der von der Schweizer Regierung beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie soll schätzungsweise zwischen 2,2 und 3,8 Milliarden Franken kosten.
Die Atomenergie soll unter anderem durch Wasserkraftwerke, erneuerbare Energie und Gas-Kohlen-Kombikraftwerke ersetzt werden.
Ensi ist die Aufsichtsbehörde des Bundes für die nukleare Sicherheit und Sicherung der schweizerischen Kernanlagen.
Das Ensi ist eine unabhängige öffentlich-rechtliche Anstalt, wie es das Kernenergiegesetz und das Internationale Übereinkommen über die nukleare Sicherheit vorschreiben.
Sein Vorstand wird von der Schweizer Landesregierung gewählt und liefert ihre Berichte direkt an diese.
Das Ensi hat seinen Sitz in Brugg im Kanton Aargau.
Die Schweiz war 1998 das erste Westeuropäische Land, das den Integrated Regulatory Review Service (IRRS) zu einer Inspektionsmission eingeladen hatte. 2003 folgte eine zweite Mission.
Der IRRS IRRS überwacht die nationalen Atomenergie-Regulierungsbehörden für die Internationale Atomenergie-Agentur (IAEA).
Teams zwischen 10 und 20 internationalen Experten besuchen ein Gastland auf Einladung. Das Team macht Vorschläge zur Verbesserung der nuklearen Sicherheit und gibt Beispiele von «guter Ausführung» an andere IAEA-Mitgliedstaaten weiter.
Im Normalfall sind die Experten hochrangige Mitglieder von Aufsichtsbehörden aus einer Reihe von Ländern.
Besuche finden im Normalfall alle zehn Jahre statt, mit einem Folgebesuch zwei Jahre später.
(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)
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