Henrys Demokratiereise in die Schweiz – und nach Schottland zurück
Als Wirtschaftsprüfer aus einem kleinen Dorf bei Glasgow landete Henry Ferguson über Umwege in Genf. Nun bringt er sein Wissen um die Schweizer Demokratie in die aktuelle Unabhängigkeitsdebatte in Schottland ein.
Die Nachricht aus der Ferne erreichte mich an einem der wärmsten Tage dieses Sommers: «In Schottland geschieht sehr viel Interessantes, das ist ein Besuch wert», schrieb mir der Absender und fügte hinzu, «ich versuche hier gerade, meine Erfahrungen aus der Schweiz in die öffentliche Debatte über die Zukunft der Demokratie im Land einzubringen».
Wenige Wochen später sitze ich durchnässt und fröstelnd im engen Zugabteil. Auf dem Weg zum Bahnhof von Edinburgh regnet es, wie es nur in Schottland regnen kann, nämlich horizontal. Mir gegenüber sitzt ein sportlicher älterer Herr in marineblauer Regenjacke und grauem Wollpullover. Er hat viel vor: «Um wirklich unabhängig und selbstbestimmt werden zu können, brauchen wir Schottinnen und Schotten mehr Dezentralismus und direkte Demokratie.»
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Der Mailschreiber und Mitpassagier heisst Henry Ferguson und ist 1943 in Uplawmoor, einem kleinen Dorf 25 Kilometer südlich von Glasgow geboren worden. Sein Vater war Wirtschaftsprüfer, die Mutter Hausfrau. Als zweiter von drei Söhnen ging Henry schon als Neunjähriger für acht Jahre in eine Internatsschule im Städtchen Dollar. Nach weiteren sieben Jahren Ausbildung und Studium in Glasgow war Henry bereit für die Welt: «Schottland war damals nicht gerade der spannendste Ort für einen neugierigen jungen Menschen.»
«Mit friedlichen Mitteln für die Unabhängigkeit»
Die Zugfahrt von Edinburgh nach Aberdeen dauert zweieinhalb Stunden. Schon nach wenigen Minuten überqueren wir die «Forth Bridge», ein schottisches Nationalsymbol und Unesco-Welterbe. Rechts schweift der Blick über den Firth, wie man Fjorde in Schottland nennt, auf die Nordsee hinaus, links geht es flussaufwärts in Richtung Stirling.
Dort feierten die Schotten Ende des 13. Jahrhunderts einen wichtigen Erfolg im Unabhängigkeitskampf gegen die Engländer. «Heute setzen wir uns mit friedlichen Mitteln für unsere Unabhängigkeit ein», sagt Henry.
Was das konkret bedeuten kann, erfahren wir an diesem kühlen Herbsttag in Aberdeen. Die drittgrösste Stadt Schottlands mit gut 230’000 Einwohnerinnen und Einwohnern hat in den letzten Jahren vor allem als Drehscheibe und Versorgungshafen für die Öl- und Gasindustrie gedient.
Nun will sich die Stadt mit Blick auf einen künftigen Ausstieg aus den fossilen Energien neu orientieren: etwa durch den Bau einer riesigen neuen Hafen- und Industrieanlage für die Windkraft und Elektromobilität auf «einer der letzten freien Grünflächen der Stadt», wie Isobel Shand vom Verein «Freunde des Saint Fitticks Park» erzählt.
Mittendrin in dem als Naturbiotop ausgestalteten Parkgelände liegen die Ruinen der Saint Fittick-Kirche und die Grabstätte eines irischen Mönchs, der sich an dieser Stelle im 7. Jahrhundert vor einem Sturm an Land retten konnte – und wegen seines Wirkens als «Heiliger der Gärtner» gilt. Gleich dahinter sind die Kräne der neuen Hafenanlage zu sehen: «Uns als Land, Stadt und als Menschen fehlen die politischen Instrumente, um uns gegenüber den globalen und britischen Interessen Gehör zu verschaffen», sagt die pensionierte Umweltwissenschafterin Shand.
Über die Karibik in die Schweiz – und zurück nach Schottland
Henry Ferguson hört aufmerksam zu und erklärt dann, wie in der Schweiz die Kantone und Gemeinden grosse Entscheidungsautonomie und die Bürgerinnen und Bürgern in vielen Fragen das letzte Wort haben. In die Schweiz zog Ferguson auf dem Umweg über die Bahamas: Als ausgebildeter Wirtschaftsprüfer erhielt er mit 24 Jahren den Anruf eines früheren Glasgower Arbeitskollegen in Nassau und folgte dessen Ruf.
Dort arbeitete er in der Folge für eine lokale Airline – und lernte seine Frau kennen, eine Schweizerin. So siedelte Ferguson Mitte der 1970-er Jahre in die Schweiz um, liess sich 1998 in Genf einbürgern – und arbeitete als Partner einer grossen Wirtschaftsprüfungsfirma mit der Finanzkontrolle. Zu den wichtigsten Kunden gehörte dabei die Europäischen Freihandelsassoziation EFTA.
Wie andere Schottinnen und Schotten wurden Henry Ferguson und Isobel Shand vor einem Jahrzehnt durch die öffentlichen Debatten im Vorfeld des Unabhängigkeitsreferendums von 2014 politisiert. «Erstmals überhaupt erhielten wir ein Gefühl dafür, was es heisst, selbst über unser Schicksal entscheiden zu können», erinnert sich Shand, «Das gab viel Kraft und Energie.»
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Im Unterschied zum wenige Jahre später von der katalanischen Regierung angesetzten Unabhängigkeitsreferendum in Spanien, war das Referendum in Schottland mit der britischen Zentralregierung abgesprochen.
Für Henry machte die Unabhängigkeitsdebatte aber auch klar, dass «es in Schottland einen demokratischen Neuanfang braucht, bei dem ich mein Wissen und meine Erfahrungen aus der Schweiz einbringen kann.»
Das tut er nun fleissig mit seinen schriftliche Eingaben auf die Vernehmlassungen der schottischen Behörden, in Treffen und Gesprächen vor Ort wie in Aberdeen, aber auch über Vorträge auf YoutubeExterner Link – in denen er geduldig erklärt, was die schottische von der schweizerischen Demokratie lernen könnte.
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Und das ist noch nicht alles. «Ich habe ein Paket von Lehrmitteln zum Thema nationaler Gouvernanz und Volksrechte erarbeitet, welches ich interessierten Organisationen gratis zur Verfügung stelle», sagt Henry. Schnelle Resultate erwarte er jedoch nicht, «denn die Unabhängigkeitsbewegung erfindet sich gerade neu».
Zu den Organisationen, in denen sich Henry engagiert, gehören die Vereine «SalvoExterner Link» und «Liberation»Externer Link. Beide Organisationen setzen sich für eine neue schottische Verfassung ein.
Kein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Sicht
Tatsächlich präsentiert sich die in den letzten Jahrzehnten führende politische Kraft für eine schottische Loslösung von Grossbritannien, die Schottische Nationalpartei SNP, gegenwärtig in einem schlechten Licht. Zwar ist es ihr auch dank des britischen Mehrheitswahlrechts gelungen, mit einer Minderheit der Stimmen seit 18 Jahren die Regierung in Edinburgh zu stellen.
Doch nachdem die damalige Erste Ministerin Nicolas Sturgeon noch im letzten Jahr ein neuerliches Unabhängigkeitsreferendum für diesen Herbst angekündigt hatte, gab es nicht nur ein Veto der Zentralregierung in London, sondern auch ein Verbot des Referendums durch das britische Höchste Gericht. Dieses Frühjahr trat Sturgeon überraschend zurück und die SNP wurde in einen Parteienfinanzierungsskandal verwickelt. Bei den jüngsten Nachwahlen für Sitze im britischen Parlament hat die SNP eine Serie von bitteren Niederlagen erlitten.
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Für sein nordeuropäisches Heimatland sieht Henry, der Schweizer Bürger aus Uplawmoore, deshalb nur einen Weg nach vorne: «Wir brauchen eine Kultur der Konsensfindung und des Dialogs, statt jene der Konfrontation und des Monologs. Dazu muss unser politisches System dezentraler und direktdemokratischer werden.»
Dabei weiss der Schottland-Schweizer: Leicht wird dies seinen Landsleuten 726 Jahre nach dem Sieg über die Engländer an der Stirling-Brücke und 316 Jahre nach der «Vereinigung» mit dem Nachbarn im Süden nicht fallen.
Editiert von Mark Livingston.
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