Hört Meinungsfreiheit auf, wo religiöse Gefühle verletzt werden?
Gilt Meinungsfreiheit als fundamentaler Grundsatz der Gesellschaft unbegrenzt, wie der französische Staat argumentiert? Oder hört sie bei der Religion auf, wie viele muslimische Kreise fordern?
Zum Auftakt des Prozesses gegen die Attentäter auf die Redaktion von Charlie Hebdo veröffentlichte das französische Satiremagazin Ende September erneut Karikaturen des Propheten Mohammed. Kurz darauf erklärte der französische Präsident Emanuel Macron dem radikalen Islamismus in einer programmatischen Rede den Kampf. Wie 2015 lösten auch diese Debatten in Frankreich in der islamischen Welt eine Protestwelle aus.
In Europa kam es in der Folge zu einer Welle von islamistisch motivierten Terroranschlägen. In Dresden, Paris, Nizza und Wien starben insgesamt neun Menschen durch islamistische Täter, unter ihnen der französische Lehrer Samuel Paty.
Er hatte französische Kinder über Meinungsfreiheit unterrichtet und ihnen dabei Mohammed-Karikaturen gezeigt. Am Dienstagnachmittag hat eine 28-jährige Frau im schweizerischen Lugano zwei Passantinnen mit einem Messer angegriffen und teils schwer verletzt – mutmasslich aus islamistischen Motiven.
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Gibt es ein Recht auf Blasphemie?
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von Anschlägen «auf unsere freie Gesellschaft, auf unsere Art zu leben». Österreichs Kanzler Sebastian Kurz sagte: «In unserer freien Gesellschaft darf es keine Toleranz für Intoleranz geben.»
Es ist eine Debatte entbrannt zwischen westlichen Ländern, die an der Meinungsfreiheit festhalten, und islamischen Ländern, welche die Karikaturen als Diskriminierung, Aufruf zu Hass und Blasphemie empfinden. In mehreren arabischen Ländern wird zum Boykott gegen Frankreich wegen Macrons Äusserungen aufgerufen. Auch der türkische Präsident Erdogan warf dem französischen Präsidenten Islamfeindlichkeit vor.
«Unakzeptable Provokation»
Die offiziellen islamischen Organisationen sind sich weltweit weitgehend einig darüber, dass Blasphemie nicht Teil der Meinungsfreiheit sein dürfe. Die Al-Azhar Moschee in Kairo – die bedeutendste religiöse Instanz im arabischen Raum – verurteilte die Mohammed-Karikaturen als «eine ungerechtfertigte Provokation der Gefühle von rund zwei Milliarden Muslimen weltweit», und verlangte «ein internationales Gesetz, das Islamphobie und Diskriminierung verbietet».
Der Gross-Imam der Al-Azhar Moschee, Ahmed el-Tayyeb, forderte Respekt für Heiligtümer und religiöse Symbole. Er warf «Charlie Hebdo» vor, weltweite Bemühungen religiöser Institutionen zu sabotieren, welche einen interreligiösen Dialog herzustellen versuchten.
Die Schweizer Föderation der islamischen Dachorganisationen (FIDS) rief die Schweizer Muslime explizit dazu auf, auf Gewalt zu verzichten. Sie betonte aber auch, Meinungen seien dazu da, «gegenseitig voneinander zu lernen, und nicht, um das Gegenüber zu kränken». «Religiöse Bezugspersonen zu verhöhnen und zu verspotten, um Meinungsfreiheit zu demonstrieren» sei «nicht zielführend».
«Unverhandelbare Werte»
Für Ahmed Mansour, Geschäftsführer der Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention und Programmdirektor der European Foundation for Democracy, sind solche Äusserungen «heuchlerisch». «Denn zur Religionsfreiheit», sagt er, «gehört auch die Freiheit, die Religion zu kritisieren – und das ist unverhandelbar.»
Aus seiner Sicht darf der Westen dabei keine Kompromisse eingehen, denn hier gehe es nicht um zwei unterschiedliche Sichten, die ihre Berechtigung hätten. «Wir haben eine Gesellschaft, die aufgeklärt geworden ist, weil sie auch in diesen Prozessen Religionskritik ausgeübt und sich von diesen Tabus befreit hat. Und eine andere Gesellschaft, die Voraufklärungsinhalte vertritt», sagt Mansour.
«Auch bei sehr konservativen Katholiken gibt es den Wunsch, der Meinungsäusserungsfreiheit Grenzen zu setzen.»
Hansjörg Schmid
Schon morgen gehe es vielleicht nicht mehr nur um die Karikatur, «sondern, ob ich sagen kann, dass Terrorismus theologisch begründet werden kann». Irgendwann entstünden Tabus, die alle demokratischen Werte in Europa zunichte machen würden. «Und das ist in niemandes Sinn, auch nicht im Sinn der Muslime», sagt Mansour.
«Sobald wir Ausnahmen machen, akzeptieren wir ein kleines Übel, das vielleicht auf kurze Sicht Ruhe bringt. Aber die Konfliktfelder sind da und die werden explodieren», so Mansour weiter. Radikalisierte Jugendliche in Europa hätten sich der Terrororganisation IS schliesslich nicht wegen der Mohammed-Karikaturen angeschlossen, «sondern, weil die Ideologie sie soweit brachte».
«Ist es nützlich?»
Hansjörg Schmid, Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg, relativiert diese Position: «Mit Blick auf den kulturellen Dialog stellt sich die Frage, ob es immer nützlich ist, maximal zu provozieren.» In der aktuellen Auseinandersetzung kommen laut Schmid weitere Faktoren hinzu: Eurozentrismus, Islamfeindlichkeit und postkoloniale Geschichte. «Das schafft Verletzungsgefühle», sagt Schmid.
«Es geht nicht um, ‹wir Muslime gegen den Westen›, sondern um ‹wir Muslime und nicht-Muslime gegen den Islamismus›.»
Elham Manea
Schmid weist auch darauf hin, dass das Thema kein rein muslimisches sei. «Auch bei sehr konservativen Katholiken gibt es manchmal den Wunsch, dass der Meinungsäusserungsfreiheit Grenzen gesetzt werden, um religiöse Gefühle zu schützen».
Auf der anderen Seite weist auch er darauf hin, dass sich niemand einen Gefallen tue, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde: «Menschenrechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit schützen Individuen, nicht aber Religionen und Ideologien, die auch polemische Kritik aushalten müssen.» Für Schmid gilt ausserdem, dass Gott über Karikaturen und Kritik stehe. «Religiös gesprochen ist Gott grösser als alle Polemiken», sagt er.
«Es geht nicht um den Islam»
Zwar ist Frankreich das grösste Einwanderungsland in Europa. Doch die Frage über die Rolle der Religion in der Gesellschaft und die Suche nach einem erfolgreichen Rezept für ein Zusammenleben der Kulturen stellt sich in vielen europäischen Ländern. Und das mit wachsender Dringlichkeit.
Elham Manea ist erfolgreiche Autorin und Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Sie sieht nicht den Islam im Zentrum der Debatte, sondern den Islamismus. Es gehe nicht um «wir Muslime gegen den Westen, sondern wir Muslime und nicht-Muslime gegen den Islamismus».
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Emmanuel Macron beispielsweise kritisiere ausschliesslich den Islamismus. Nun versuchten aber einige Akteure, den Diskurs zu drehen, Macron als Feind des Islam darzustellen. «Das und die Reaktion dieser Kreise zeigt, dass es ein Problem gibt», sagt Manea.
«Wir müssen gezielt gegen die Strukturen des Islamismus vorgehen», fordert Manea. Macron habe erkannt, dass sich der Staat zu sehr zurückgehalten habe und islamistischen Bewegungen ein Vakuum überlassen habe. «Wir müssen zu unseren Jugendlichen schauen, um sie vor Radikalismus zu schützen.»
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