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Historiker kratzen am Bergier-Bericht

Famille juive
Bernard Eizikman (4. von links) im Oktober 1944 mit Mitgliedern der Familie Dubois, auf deren Bauernhof im neuenburgischen Bressels der Knabe Zuflucht gefunden hatte. Mémorial de la Shoah/Coll. Yoram Degani

Die Frage der Anzahl jüdischer Flüchtlinge, die während des Zweiten Weltkriegs von den Behörden an der Schweizer Grenze abgewiesen worden waren, spaltet Historiker nach wie vor. Das französische Journal Revue d'histoire de la Shoah zieht eine Bilanz.

Der Grenzposten von Caprino mit Blick auf den Luganersee wurde 1935 zunächst teilweise in ein Zollmuseum umgewandelt. Die Idee dazu hatte der Grenzbeamte Angelo Gianola, der dem Publikum auf diese Weise typische Gegenstände aus dem Alltag der Grenzwächter zeigen wollte, vor allem Schmuggelwaren.

In den 1970er-Jahren wurde das Gebäude schliesslich zum offiziellen Schweizer ZollmuseumExterner Link. War es das Bemühen um den Aufbau eines Archivs oder der Argwohn gegenüber den Schmugglern, der die Zollbeamten veranlasst hatte, während der Kriegsjahre akribisch Buch darüber zu führen, wer alles an der Grenze auftauchte?

Grenz-Journal

«Meines Wissens ist dies das einzige Grenzregister in der Schweiz, in dem neben den Namen der aufgenommenen Flüchtlinge auch die Namen der Abgewiesenen erfasst wurden», schreibt der Historiker Adriano Bazzocco in der jüngsten Ausgabe der Revue d’histoire de la ShoahExterner Link (Publikation des Holocaust-Memorials/Mémorial de la Shoah in Paris) mit dem Titel «Die Schweiz angesichts des Völkermords».

Die Namen von 150 Juden und Jüdinnen sind im Register von Caprino eingetragen. 97 davon wurden ins Land gelassen, 53 weggewiesen. 

Mindestens 21 von diesen «wird es bei späteren Versuchen gelingen, aufgenommen zu werden, elf werden verhaftet und nach Ausschwitz deportiert, wo neun von ihnen sterben werden, während das Schicksal der restlichen 19 Menschen unbekannt ist», erklärt Bazzocco, der eine Doktorarbeit über die Geschichte des Schmuggels an der italienisch-schweizerischen Grenze schreibt.


Keine genauen Zahlen

Es ist natürlich schwierig, allgemeine Schlussfolgerungen über die Aufnahme und Wegweisung von Jüdinnen und Juden in der Schweiz in diesen dunklen Zeiten zu ziehen. Dennoch ein paar Hinweise: Viele der weggewiesenen Menschen liessen sich nicht ermutigen und versuchten ihr Glück erneut, mit mehr oder weniger Erfolg.

Diese Mikrostudie zur Lage an der Tessiner Grenze zeigt auch die grosse Unsicherheitsmarge dieser Art Forschung. Trotz der Präzision des Registers ist das Schicksal von rund 20 Menschen nicht bekannt: Haben sie es letztlich geschafft, die Grenze in die sichere Schweiz zu überschreiten? Oder wurden sie deportiert? In dieser schmerzhaften, sensiblen Frage ist es praktisch ausgeschlossen, exakte Zahlen zu eruieren.

Zudem: Ist es überhaupt notwendig, Zahlen zusammenzutragen? Und würde eine globale «tiefe» Schätzung – einige Tausend Abgewiesene insgesamt – die Schweiz und ihre Haltung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen während dem Krieg reinwaschen?

«Geht man davon aus, dass die Zahl der an der Grenze abgewiesenen Flüchtlinge nur einige Tausend Menschen betraf, würde dies die Analyse der UEK [Bergier-Kommission] bestätigen, wonach die Schweiz diese Opfer hätte aufnehmen können, ohne dass ihr daraus ein Risiko erwachsen wäre, weder aus Sicht der Ernährungslage, noch militärisch oder politisch», hält der Historiker Marc Perrenoud im gleichen französischen Forschungs-Journal fest.

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Jüdische Flüchtlinge oder Fahnenflüchtige?

Es muss gesagt werden, dass die Schätzungen in dieser Frage ziemlich stark voneinander abweichen. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter WeltkriegExterner Link (UEK) unter Leitung des Historikers Jean-François Bergier übernahm in ihrem Bericht von 2002 die früher vom Historiker Guido Koller etablierten Schätzungen: Demnach wurden an den Schweizer Grenzen etwa 24’500 Menschen weggewiesen, Juden und Nichtjuden.

Allerdings habe die Bergier-Kommission «unvorsichtigerweise riskiert zu erklären, dass bis Frühjahr 1942 ein grosser Teil der weggewiesenen Zivilisten jüdische Flüchtlinge waren», betont Adriano Bazzocco. «Das erklärt, wieso Medien und selbst Historiker die Zahlen der abgewiesenen zivilen Flüchtlinge oft unterschiedslos als Kriterium nahmen, um das Ausmass der Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen zu beurteilen, was grosse Verwirrung stiftete», fügt der Historiker hinzu.

Bazzocco schätzt, dass allein an der Grenze im Tessin, für die er sich interessiert, ein grosser Teil der 12’508 Flüchtlinge, die zwischen September 1943 und März 1944 weggewiesen wurden, wohl eher italienische Fahnenflüchtige als jüdische Flüchtlinge gewesen seien.

Wegweisungen an der Grenze zu Frankreich

An der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz hat sich das Schicksal des wohl grössten Teils der jüdischen Flüchtlinge entschieden. Die Genferin Ruth Fivaz-Silbermann, Autorin einer neueren Doktorarbeit zu diesem Thema, sagt, insgesamt habe es etwa 3270 Zurückweisungen, so genannte Refoulements, von jüdischen Flüchtlingen gegeben. An der Westgrenze seien 2850 Personen abgewiesen und 12’675 Jüdinnen und Juden aufgenommen worden, so die Forscherin.

In Genf, wo Tausende von Flüchtlingen ankamen, seien viel weniger Menschen zurückgewiesen als aufgenommen worden. «Im Durchschnitt wurden etwa 15% der Ankommenden weggewiesen», präzisiert Ruth Fivaz-Silbermann.

Das ist weit entfernt von den Schätzungen der Bergier-Kommission. Wo liegt die Wahrheit? Marc Perrenoud, der wissenschaftlicher Berater der Bergier-Kommission war, erklärt, angesichts der lückenhaften Dokumentation, der Vernichtung von Dokumenten, dem Fehlen verlässlicher Angaben zu den zurückgewiesenen Personen könnten «keine genauen und umfassenden Statistiken für die gesamte Schweizer Grenze und den ganzen Zeitraum 1939 bis 1945 erstellt werden».

In der Revue d’histoire de la Shoah ordnet Perrenoud die Frage der Passage in die Schweiz während dem Krieg denn auch in einen längeren historischen Kontext ein. In den Kontext der extremen Zurückhaltung der Schweizer Behörden gegenüber der Einwanderung aus dem Ausland, vor allem, was jüdische Einwanderer betraf.

Rothmunds Politik

Allein im Jahr 1932 hatten die Schweizer Zollbeamten insgesamt mehr als 16’000 Ausländer weggewiesen, «wegen mangelnder Einkommen oder fehlender Arbeitsstellen», wie der Vertreter der Oberzolldirektion, Samuel Häusermann, im Jahr darauf geltend gemacht hatte. Im Kontext dieser starken Beschränkung der ausländischen Bevölkerung seit dem Ersten Weltkrieg waren Juden nicht willkommen.

1942 erklärte Heinrich Rothmund, Leiter der Polizeiabteilung des Justiz- und Polizeidepartements: «Der Jude galt in unserem Land schon immer als Ausländer und wurde nur zugelassen, wenn er bereit war, sich unseren Sitten und Gebräuchen anzupassen».

Als der Druck an der französisch-schweizerischen Grenze nach den Razzien im Sommer 1942 zunahm, präzisierte Rothmund, «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, zum Beispiel Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge».

Marc Perrenoud ruft in Erinnerung, dass es bis zum Ende des Krieges gedauert habe, bis die Schweiz ihre Grenzen für Flüchtlinge wieder einen Spalt breit geöffnet habe.

Die Holocaust-Gedenkstätte (Mémorial de la ShoahExterner Link) setzt ihre nationale Kampagne zum Zusammentragen von Archiven fort und wendet sich regelmässig an die Öffentlichkeit in Frankreich (und in der Schweiz). 2014 und 2015 wurden im Rahmen der Archiv-Kampagnen aus ganz Frankreich Tausende von Dokumenten, Fotos und Gegenständen aus privaten Archiven zusammengetragen.

Die Pariser Shoah-Gedenkstätte ist das grösste Forschungs- und Sensibilisierungszentrum Europas für die Geschichte des Völkermords an den Juden im Zweiten Weltkrieg und bewahrt und betreut seit 70 Jahren Archive des Holocaust. Heute verfügt das Zentrum über mehr als 40 Millionen Dokumente und Artikel, 270’000 Fotos – darunter 16’000 Fotos von deportierten französischen Juden – sowie rund 80’000 Werke und Zeitschriften.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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