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«Aung San Suu Kyi hat nicht freie Hand»

Rohingyas dans des camps de réfugiés au Bangladesh
Fast 500'000 Rohingya leben derzeit unter prekären Bedingungen in Flüchtlingslagern in Bangladesch. Keystone/AP/Bernat Armangue

Angriffe muslimischer Rebellen, blutige Repression durch die Armee und die Flucht zehntausender Rohingya – die Empörung über die Friedensnobelpreis-Trägerin Aung San Suu Kyi wächst an. Der Verleger Matthias Huber, ein Kenner des Landes, nimmt die burmesische Regierungschefin in Schutz.

Jahrelange Repression

Die Rohingya gehören zu den am stärksten verfolgten Minderheiten weltweit. Die Muslime in dem mehrheitlich buddhistischen Myanmar sind seit Jahren Repressionen ausgesetzt. 

Der Konflikt war Ende August eskaliert, als Rohingya-Rebellen Soldaten und Polizisten angriffen und dutzende Sicherheitskräfte töteten. Das Militär reagierte mit brutaler Gegengewalt. Hunderte Menschen wurden umgebracht, ihre Häuser niedergebrannt.

Einen für Donnerstag geplanten Besuch von UNO-Vertretern in Rakhine sagte die myanmarische Regierung ab. Als Grund nannte sie schlechtes Wetter. Der Besuch sei nun auf den 2. Oktober verschoben, meldeten Staatsmedien am Freitag.

Der UNO lägen beängstigende Berichte über den Einsatz exzessiver Gewalt gegen Rohingya vor, sagte UNO-Generalsekretär António Guterres am Donnerstag, es gebe Berichte über den Einsatz von Landminen gegen Zivilisten sowie sexuelle Gewalt. 

Die Armee müsse den Einsatz in Rakhine sofort einstellen und einen uneingeschränkten Zugang für humanitäre Hilfe zulassen. Den geflüchteten Rohingya müsse die sichere Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht werden. «Die Situation hat sich hochgeschaukelt zu der sich am schnellsten ausweitenden Flüchtlingskrise der Welt, zu einem humanitären und menschenrechtlichen Albtraum», sagte Guterres.

Die UNO ist der Ansicht, dass die Übergriffe der burmesischen Armee und der buddhistischen Milizen gegen diese muslimische Minderheit ethnischen Säuberungen gleichkommen.

Matthias Huber, Mitglied des Vereins «Schweizer Freunde Suisse – Birmanie» und Verleger des Buchverlags Editions Olizane in Genf, bereist Burma seit 1979. Im Interview erklärt er seine persönliche Sicht auf die Krise.

Matthias Uber
Matthias Huber swissinfo.ch


swissinfo.ch: Was halten Sie von den Reaktionen der internationalen Gemeinschaft, von Nichtregierungs-Organisationen und eines Teils der Medien auf die Tragödie der Rohingya in Burma?

Matthias Huber: Diese Krise wird oft sehr einseitig dargestellt. Die Rohingya werden als die einzigen Opfer gezeigt und das Militär, wie die anderen Burmesen, als die einzigen Aggressoren. Doch die Situation ist viel komplexer als diese Sichtweise in Schwarz und Weiss.

swissinfo.ch: Aber die Übergriffe der burmesischen Armee auf die Rohingya sind unbestritten.

M.H.: Das ist klar. Die Armee geht sehr brutal vor. Es gab mehrere hundert Tote, und jeder Tote ist einer zu viel. Es ist aber kein Völkermord, im Gegensatz zu dem, was der französische Präsident Macron gesagt hat. So verlieren Worte ihre Bedeutung.

Von Aung San Suu Kyi wurde erwartet, dass sie die Übergriffe der Armee auf das Schärfste verurteilt. Sie ist aber eine politische Führerin und hat nicht freie Hand. Dass sie letzte Woche nicht an der UNO-Generalversammlung erschienen ist, hat wohl damit zu tun, dass sie sich fürchtete, während ihrer Abwesenheit vom Militär abgesetzt zu werden.

swissinfo.ch: Wann haben diese Streitereien zwischen Rohingya und Burmesen angefangen?

M.H.: Die heutigen Probleme begannen während der Kolonialzeit. Seither kam es immer wieder zu antimuslimischen Pogromen. Damals war ein Teil der Muslime wirtschaftlich erfolgreicher als die Burmesen, die hauptsächlich Landwirtschaft betrieben, während die aus Indien stammenden Muslime das grosse Geschäft betrieben, also einen Grossteil der Wirtschaft. Von da her stammen diese Spannungen.

verbranntes dorf
«Ethnische Säuberung»: Ausgebranntes Dorf im Bundesstaat Rakhine. Keystone

Die Rohingya hingegen behaupten, sie seien seit Anbeginn der Zeit in Burma ansässig, sogar schon vor der Ankunft der Burmesen. Das ist historisch falsch. Zum grössten Teil lebte diese Ethnie bis vor 200 Jahren in der Region um Cox’s Bazar (eine Stadt im Südosten Bangladeshs nahe der Grenze zu Myanmar, N.d.R.).

Nach dem Ersten Anglo-Burmesischen Krieg 1826 wurden sie von den britischen Kolonisten hierhergebracht. In der Region Arakan (heute Rakhine, N.d.R.), welche die Briten gerade annektiert hatten, fehlten in der Tat genügend Arbeitskräfte, um die Reisfelder zu bewirtschaften. Das schmälert aber nicht die Tatsache, dass die Rohingya das Recht haben, als vollwertige Bürger Burmas anerkannt zu werden.

swissinfo.ch: Aber schwingt in der Haltung von Aung San Suu Kyi nicht auch eine gewisse Verachtung für das Volk der Rohingya mit?

M.H.: Das ist nicht ausgeschlossen. Zweifelsohne gibt es einen Überlegenheitskomplex der Burmesen gegenüber den ethnischen Minderheiten in Myanmar, die einen Drittel der Bevölkerung ausmachen.

Doch Burma steckt mittendrin in einem demokratischen Wandel, ein Prozess, der viel Zeit braucht. Auch heute noch kontrolliert die Armee die drei Schlüsselministerien, das heisst, das Verteidigungs-, das Grenz- und das Innenministerium. Das erlaubt ihnen, das ganze Land abzuriegeln. In anderen Worten, die Armee kontrolliert weiterhin das Land, auch wirtschaftlich und durch Korruption. Und ihre Agenda ist nicht die gleiche wie jene der Demokraten.

Externer Inhalt

swissinfo.ch: Hätte die Friedensnobelpreis-Trägerin Aung San Suu Kyi die Gewalt der Armee an den Rohingya nicht scharf anprangern sollen?

M.H.: Zuerst einmal muss gesagt werden, dass sie ein schlechtes Umfeld hat.

Das lässt sich erklären: Während der 50 Jahre der Diktatur (ab 1962) waren die Studenten der Volksfeind Nummer Eins. Die Universitäten waren während Jahren geschlossen, wie auch die Primarschulen.

Deshalb gibt es keine Elite, die ein Land führen kann, das grösser ist als Frankreich, die Schweiz und Belgien zusammen. Es fehlt schlicht an den Kompetenzen. Burma ist ein sehr traditionelles Land. Die Älteren haben ein sehr grosses Gewicht.

Aung San Suu Kyi ist von einigen sehr respektablen Leuten umgeben, die aber auch sehr alt sind. Sie stammen aus einer anderen Epoche. Sie steht also den Generälen ganz allein gegenüber, die viel besser organisiert sind.

Die Militär-Akademien, wie auch die Privatschulen für die Kinder der Militärs waren nie geschlossen. Die Ausbildung ist daher eher militärisch geprägt als aus der burmesischen Zivilgesellschaft heraus, der es an allen Ecken und Enden an Kompetenzen fehlt. Es wird Generationen dauern, bis diese Tendenz umgedreht werden kann.

Um die gegenwärtige Krise zu verstehen, muss man sich auch den grossen Graben zwischen den grossen Städten und den ländlichen Gebieten vor Augen führen, wo eine extreme Armut herrscht.

swissinfo.ch: Hat die von der vorherigen Regierung eingeleitete wirtschaftliche Öffnung diesen Graben verschärft?

M.H.: Ganz klar. Die vorherige Regierung – immer noch vom Militär beherrscht – versuchte, die Strasse zu beruhigen. Mit grossen Importen von Autos, Rollern und Mobiltelefonen öffnete sie einer zunehmenden Mittelschicht die Türen. Von dieser Überflutung des Landes mit Konsumgütern profitierte aber nur eine kleine urbane Elite, ohne dass die ländlichen Gebiete etwas davon gehabt hätten.

Glückskette sammelt

Mehrere hunderttausend Rohingya sind aus Myanmar geflohen und suchen in Bangladesch Zuflucht. Die humanitäre Lage in den Flüchtlingslagern ist katastrophal.

Mehrere Partnerhilfswerke sind mit Nothilfeteams vor Ort und versorgen die Flüchtlinge mit dem Nötigsten. Die Glückskette ruft deshalb zu Spenden auf, um diese Soforthilfe zu unterstützen.

Spenden sind jederzeit möglich auf das Postcheck-Konto 10-15000-6 (Vermerk «Rohingya») oder online auf www.glueckskette.chExterner Link.

(Quelle: SDA)

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(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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