«Ich zahle ungern Steuern an einen korrupten Staat»
Von einer nationalen Depression zu sprechen, ist vielleicht übertrieben. Doch die Krise in Griechenland trifft praktisch alle, die kleinen Leute ganz besonders, doch auch der Mittelstand spart und blickt besorgt in die Zukunft. Schweizer Staatsangehörige erzählen.
«Es hat immer mehr Leute, welche die Nacht auf der Strasse verbringen. Es sind vor allem illegale Einwanderer aus Pakistan, aus Bangladesch. Das ist traurig», sagt Lisa Hamuzopulos. «Fast an jeder Ampel steht jemand, aber ich kann doch nicht jedem etwas geben.»
Die 58-jährige Ostschweizerin wohnt seit 1999 in Griechenland, ist mit einem griechischen Anwalt verheiratet und betreibt das Café im Goethe-Institut in Athen.
Auch Lara Bachmann, die im Institut Hellenic American Union als E-Learning-Koordinatorin arbeitet, sieht die illegale Einwanderung als grosses Problem. «Die nordeuropäischen Staaten sollten den Ländern im Süden helfen. Griechenland kann nicht alle diese Leute durchfüttern», sagt die 33-jährige Tessinerin, die seit fünf Jahren in Griechenland lebt und ebenfalls mit einem Griechen verheiratet ist.
Lara Bachmann hat einen guten Job. Und auch wenn der Lohn wegen höherer Steuerabzüge kleiner geworden ist, bezeichnet sie sich als privilegiert. Und doch: «Alles ist teurer geworden, man passt auf, was man ausgibt.»
In die Schweiz zurückkehren möchte sie keinesfalls, auch wenn die Lage sich weiter verschlimmern sollte. «Es ist so einsam dort, hier kümmern sich die Leute mehr umeinander», sagt die Tessinerin.
Mehr Arbeit auf Schweizer Botschaft
Die Schuldenkrise bekommt auch die Schweizer Vertretung in Athen zu spüren. «Wir haben mehr Schweizer oder Doppelbürger, die Pässe beantragen, um für eine allfällige Ausreise bereit zu sein», sagt Konsul Peter Himmelberger.
Erstmals sei ein leichter Rückwanderungstrend von etwa 1-2% zu beobachten. Den Grund dafür sieht der Schweizer Konsul in der aktuellen Krise. «Wie viele der knapp 3400 Schweizer Staatsangehörigen im Land Probleme haben, wissen wir nicht, denn nicht alle kommen zu uns. Wir hatten Einzelfälle, in denen um Hilfe ersucht wurde, etwa um Rückführungsfinanzierung.»
Zudem, so Himmelberger, erkundigten sich mehr Griechen nach Arbeitsbewilligungen, Einreise- oder Studienbedingungen in der Schweiz. Kein Wunder, denn laut den neusten Zahlen sind 46% der 15- bis 24-Jährigen ohne Arbeit. Im Goethe-Institut sind die Deutschkurse ausgebucht, und auch an der Hellenic American Union ist der Andrang für Englisch-Zertifikate gross.
Die Krise ist sichtbar
Dass die Krise Griechenland hart trifft, zeigt sich auch im Stadtbild: Viele Bettler, Taxifahrer, die auf Kundschaft warten, Roma, Pakistani und Rentner, die Feuerzeuge, Blumen oder Lottoscheine verkaufen. Man spricht von mehr Kriminalität in der Innenstadt.
Unzählige Läden und Geschäftslokale sind geschlossen oder stehen kurz davor, und dies nicht nur in der Innenstadt, auch Piräus oder der noble Vorort Kifissia werden nicht verschont.
Viele Leute können die Nebenkosten für Heizungen und Elektrizität nicht mehr bezahlen. Lisa Hamuzopulos hat von einem Verkaufsboom von Decken und Schlafsäcken gelesen. In ihrer Wohnung läuft die Heizung, wenn es kalt ist. «Aber wir passen besser auf und ziehen uns auch etwas wärmer an.»
Dennoch geht es Lara Bachmann und Lisa Hamuzopulos verhältnismässig gut, aber unbeschwert sei das Leben nicht mehr. Die Unsicherheit sei gross, auch wenn sich die Stimmung seit der Einsetzung der Übergangsregierung etwas beruhigt habe. «Wenn im Bus geredet wird, dann über Geld. Jeder will wissen, wie viel Sondersteuern der andere bezahlen muss, sagt Lisa Hamuzopulos.»
Sparen, sparen, sparen
Zur Sanierung der Staatsschulden hat Griechenland eine Immobiliensteuer und eine Solidaritätssteuer eingeführt. Die Mehrwertsteuer wurde massiv erhöht, Renten wurden gekürzt. Herr und Frau Hamuzopulos bezahlen allein für die Solidaritätssteuer 1100 Euro.
Diese Massnahmen treffen die ärmeren Leute ganz besonders, aber auch die Mittelschicht muss den Gürtel enger schnallen und geht nur noch selten auswärts essen.
«Das Misstrauen gegenüber dem Staat ist enorm. Sehr viel Geld ist verschwunden, das macht die Leute wütend. Ich zahle ungern Steuern an einen korrupten Staat», betont Lisa Hamuzopulos.
Madeleine Arvanitis, Vizepräsidentin des Schweizer Clubs Athen, ist mit einem Arzt verheiratet, der nächstens in Pension geht. Seit bald 28 Jahren lebt sie in Griechenland. «Ein ganzes Jahr wird verstreichen, bis mein Mann die Altersrente bekommt. Und wann die 2. Säule kommt, steht in den Sternen.»
Düstere Aussichten für die Jungen
Die gelernte Krankenschwester aus Freiburg ist wütend und enttäuscht, vor allem über die Regierung und die beiden Parteien Nea Dimokratia und Pasok. «Ich fühle mich von den beiden grossen Parteien nicht mehr vertreten. 27 Jahre lang habe ich Pasok gewählt. Wie ich bei den nächsten Wahlen wählen werde, weiss ich nicht.»
Sorgen macht sich die Mutter von zwei erwachsenen Kindern vor allem um die Zukunft der Jungen. «Mein Sohn arbeitet seit zwei Jahren als Jurist und erhält monatlich etwas über 1000 Euro.»
Der 28-Jährige lebt noch bei den Eltern, eine eigene Wohnung liegt nicht drin, geschweige denn die Gründung einer Familie. «Die Jugend ist enttäuscht und will mit Politik nichts zu tun haben.»
Die Mentalität muss sich ändern
Grosse Angst hat Madeleine Arvanitis vor einer Rückkehr zur Drachme. «Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte. Unser Erspartes würde an Wert verlieren.» So ist es denn auch kein Wunder, dass mehrere Schweizer Bürger gegenüber swissinfo.ch erwähnt haben, ihr Erspartes in ihrer alten Heimat in Sicherheit gebracht zu haben.
Dass die Griechen zu lange auf Pump gelebt haben und ihren Lebensstil ändern müssen, beurteilen inzwischen auch viele Griechen so. Der Wille und die Einsicht zur Veränderung seien da, sagt Madeleine Arvanitis.
Als teils unfair bezeichnet Lara Bachmann die Ausland-Berichterstattung zu Griechenland: «Der Grieche wird so dargestellt, als würde er den ganzen Tag am Strand liegen. Dabei ist der Arbeitsrhythmus hier sehr hart.»
Die Wirtschaft des hochverschuldeten Griechenland ist weit von einem Ende ihrer Rezession entfernt. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) des Euro-Mitglieds schrumpfte im dritten Quartal um 5% gegenüber dem Vorjahr.
Die Arbeitslosenquote in Griechenland sank im September auf 17,5%, im August hatte sie noch 18,4% betragen. 2010 lag sie bei 12,6%.
Hart betroffen sind weiterhin junge Menschen: Zwischen 15 und 24 Jahren sind 46,4% ohne Arbeit. Vergangenes Jahr lag die Quote bei 33,6%.
Quelle: Griech. Statistikbehörde (ELSTAT)
Von der Krise in Griechenland sind immer mehr auch Kinder betroffen. Das Bildungs-Ministerium lancierte ein umfangreiches Programm für die Ausgabe von Essens-Gutscheinen für Schulkinder.
Laut einem Sprecher der Lehrer-Gewerkschaft sind vor allem Kinder von Migranten betroffen, die wegen der Finanzkrise keine Arbeit mehr in Griechenland finden.
Es gebe aber auch Fälle von mangelernährten griechischen Kindern, deren Eltern die Arbeit verloren hätten.
In Griechenland leben knapp 3400 Schweizer Staatsangehörige, Tendenz sinkend. Beim Grossteil von ihnen handelt es sich um Doppelbürger.
Pro Jahr reisen etwa 350’000 Schweizer Touristen nach Griechenland.
In der Schweiz sind rund 6000 griechische Staatsbürger registriert.
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