IKRK-Regionaldirektor über den Krieg in Gaza: «Unsere Arbeit wird oft missverstanden»
Das IKRK hat die Freilassung der israelischen Geiseln im Gazastreifen unterstützt. Eine Rolle, die es nur wahrnehmen konnte, weil es keine Stellung bezieht. So sieht das Fabrizio Carboni, IKRK-Regionaldirektor für den Nahen Osten.
«Angespannt» und «kompliziert»: Mit diesen Worten beschreibt Fabrizio Carboni die vergangenen Tage.
Das Treffen mit dem Regionaldirektor für den Nahen und Mittleren Osten beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) findet am Montagabend in Genf statt. In den zurückliegenden Stunden und Tagen haben seine Kolleg:innen in Gaza die Freilassung von 50 israelischen Geiseln und von 150 palästinensischen Gefangenen ermöglicht.
Der Austausch war Teil einer Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas, die auch eine viertägige Waffenruhe vorsah. Am Montag einigten sich beide Parteien darauf, die Waffenruhe um zwei weitere Tage bis Donnerstagmorgen zu verlängern. Am Dienstag wurden zehn weitere israelische Geiseln im Austausch gegen 30 palästinensische Gefangene freigelassen.
Das IKRK wurde damit betraut, die Überführung der Gefangenen durchzuführen. Da das IKRK als neutraler Vermittler agiert, hatte die Organisation nicht an den Verhandlungen teilgenommen.
Laut Carboni ist es die Fähigkeit des IKRK, «vertrauensvolle Beziehungen» zu allen Parteien in bewaffneten Konflikten aufzubauen, die es der Organisation – wie schon oft in der Vergangenheit – ermöglicht hat, die heiklen Operationen durchzuführen.
«Wir werden uns nicht zur politischen Situation äussern. Wir werden keine Stellung dazu beziehen, warum Menschen kämpfen oder ob sie das Recht haben, Gewalt anzuwenden», so Carboni.
«Das ermöglicht es uns, bei einer Geiselbefreiung auf dem Gefechtsfeld zu sein, mitten in der Nacht an einen geheimen Ort zu gehen und die Geiseln in Empfang zu nehmen. Und gleichzeitig dafür sorgen, dass Hunderte von Kilometern entfernt dasselbe passiert, in diesem Fall mit palästinensischen Gefangenen.»
Für aussenstehende Beobachter:innen möge dies wie Logistik aussehen. Aber in einem bewaffneten Konflikt zwischen Parteien, die einander nicht vertrauen und sich gegenseitig umbringen wollen, eine vertrauenswürdige dritte Partei zu werden, sei «extrem schwierig» und könne nicht über Nacht geschehen, sagt Carboni.
Zugang zu den Geiseln
In den letzten Wochen war das IKRK unter anderem von Israels Aussenminister Eli Cohen kritisiert worden, der sagte, die Organisation habe «keine Existenzberechtigung», wenn sie sich nicht mit den israelischen Geiseln im Gazastreifen treffe.
Gemäss den Genfer Konventionen hat das IKRK ein spezielles Mandat, Kriegsgefangene zu besuchen, ihr Wohlergehen zu überprüfen und Nachrichten zwischen ihnen und ihren Familien auszutauschen. Das setzt aber voraus, dass das IKRK auch zugelassen wird.
«Die Menschen neigen dazu zu glauben, dass wir Dinge tun können, die wir nicht tun können. Wir haben keine Armee. Wir haben keine Waffen. Es gibt nicht einmal ein politisches Gewicht, das eine Partei dazu zwingen könnte, etwas zu tun, was sie nicht tun will», erklärt Carboni.
Das IKRK hat wiederholt die Freilassung der Geiseln gefordert und darum ersucht, alle Gefangenen besuchen zu dürfen. Es ist jedoch besonders schwierig, Zugang zu den Gefangenen in Gaza zu erlangen. Denn anders als sonst üblich werden sie nicht abseits der Frontlinie gefangen gehalten, sondern mitten im umkämpften Gazastreifen.
«Erstens wollen uns die Parteien keinen Zugang gewähren und zweitens besteht ein Sicherheitsrisiko», fasst Carboni zusammen.
Krankenhäuser und humanitäres Völkerrecht
Der Krieg hat schreckliche Auswirkungen auf das Gesundheitssystem des Gazastreifens. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sind fast drei Viertel der Krankenhäuser im Gazastreifen (26 von 36) aufgrund von Schäden durch die Kampfhandlungen oder wegen Treibstoffmangels geschlossen.
Vor kurzem führte das israelische Militär eine Razzia im Al-Shifa-Krankenhaus, dem grössten Krankenhaus in Gaza, durch – dies, nachdem es behauptet hatte, die Hamas nutze Tunnel unter der Einrichtung als Versteck und zur Lagerung von Waffen.
Carboni will sich nicht dazu äussern, ob Krankenhäuser als Militärstützpunkte genutzt wurden. «Was ich garantieren kann, ist, dass wir im Rahmen unseres vertraulichen Dialogs mit allen Parteien deutlich gemacht haben, was wir wissen und was sie tun sollten.»
Nach dem humanitären Völkerrecht müssen Krankenhäuser geschützt werden, was bedeutet, dass sie weder angegriffen noch für militärische Zwecke genutzt werden dürfen. Wenn sie ihren Schutz verlieren, weil sie etwa von Soldaten benutzt werden, muss die Gewalt mit Vorsicht und unter Wahrung der Verhältnismässigkeit eingesetzt werden.
Waffenruhe, und was dann?
Dank der anhaltenden Waffenruhe konnte mehr humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen gelangen. Die am Montag vereinbarte Verlängerung der Waffenruhe ist laut Carboni eine «gute Nachricht», da sie der Zivilbevölkerung eine Atempause verschafft, die Verteilung weiterer Hilfsgüter und die Freilassung von Geiseln und Gefangenen ermöglicht. Aber sie ist auch «bittersüss», da sie die Frage aufwirft, «was danach passiert».
«Die humanitären Akteure haben keine Lösung für diese Krise, denn die Lösung ist eine politische», so Carboni. «Wenn man die Ursachen der Gewalt nicht bekämpft, wird sie sich wiederholen.»
Die jahrzehntelange Erfahrung mit Konflikten auf der ganzen Welt habe das IKRK gelehrt, dass es nicht funktioniere, sich ausschliesslich auf die «Sicherheitsagenda» zu konzentrieren.
Der Krieg im Gazastreifen, «einem geschlossenen, dicht besiedelten Gebiet», habe «verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung» gehabt, sagt er. «Wir haben unsere besten und erfahrensten Mitarbeiter nach Gaza entsandt. Und sie waren wirklich betroffen von dem, was sie sahen.»
Nach Angaben der Hamas wurden in Gaza bislang 14’854 Menschen, darunter 6150 unter 18 Jahren, vom israelischen Militär getötet (Stand Anfang Woche). Bei dem Angriff der Hamas am 7. Oktober wurden nach israelischen Angaben 1200 Menschen getötet, die Gesamtzahl der Geiseln wird auf 240 geschätzt.
Für Carboni ist es bedauerlich, dass die Aussage des IKRK, es kümmere sich um die Zivilisten auf beiden Seiten des Konflikts, heute «eine wirklich schwer zu vermittelnde Botschaft» ist. «Es ist möglich, sich um alle zu kümmern, ohne eine Hierarchie des Leidens aufzustellen.»
Editiert von Virginie Mangin. Aus dem Französischen übertragen von Marc Leutenegger
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch