«In Frankreich sind die Menschen nicht bereit, Opfer für das Gemeinwohl zu erbringen»
In der Schweiz war Anita Doudaine Mitglied der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Seit 15 Jahren lebt sie nun in Frankreich, wo sich die Appenzellerin aktiv an der Gelbwesten-Bewegung beteiligt hat. Bei den kommenden französischen Präsidentschaftswahlen erkennt sie sich eher in den linken Kandidaturen wieder denn in rechten.
«Die Franzosen und Französinnen funktionieren und denken anders, sie machen Politik auf eine andere Art und Weise», sagt Anita Doudaine. Diesen kulturellen Unterschied spürt die 47-Jährige täglich, seit sie in Charnas (Département Ardèche) lebt, einem Dorf auf halbem Weg zwischen Lyon und Valence.
Doudaine stammt aus Teufen im Kanton Appenzell Ausserrhoden in der Nordostschweiz. Sie macht eine Lehre als Bauzeichnerin und besucht anschliessend eine Fachhochschule. Sie spezialisiert sich auf die Planung und Gestaltung von Messeständen.
Auf einer Messe in Peking (China) lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen, einen Franzosen. Also wandert sie 2005 der Liebe wegen nach Frankreich aus.
Politisches Engagement in der Schweiz
Neben ihrem Studium ist sie politisch aktiv, allerdings nie für eine bestimmte Organisation, da sie sich «mit keiner Partei hundertprozentig identifizieren kann». Ihr Berufsleben führt sie nach Olten im Kanton Solothurn (Zentralschweiz), wo sie der SVP beitritt.
Der Hauptgrund liegt darin, dass diese Partei einen Beitritt zur Europäischen Union vehement ablehnt. «Ich bin nicht für die EU – zumindest nicht in ihrer jetzigen Form», so Doudaine.
Der Nicht-Beitritt zur EU wird zum roten Faden ihres politischen Engagements. So kandidiert die Appenzellerin für den Gemeinderat der Stadt und wird gewählt. «Leider konnte ich meine Amtszeit nicht beenden», bedauert sie.
Die französischen Präsidentschaftswahlen aus der Sicht der Auslandschweizer:innen in Frankreich
Über 200’000 Schweizer:innen sind offiziell bei den konsularischen Vertretungen als in Frankreich wohnhaft registriert. Damit lebt dort die grösste Auslandschweizergemeinschaft auf der Welt.
Vor den nächsten Präsidentschaftswahlen, die am 10. April (erster Wahlgang) und am 24. April (zweiter Wahlgang) stattfinden, publiziert SWI swissinfo.ch die Aussagen von Schweizerinnen und Schweizern in Frankreich, die in den wichtigsten politischen Parteien der Schweiz aktiv sind oder waren, um eine helvetische Sicht auf die französische Politik zu erhalten.
Die vertretenen Schweizer Parteien sind: Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SP/links), Schweizerische Volkspartei (SVP/rechtskonservativ), Die Mitte (ehemals CVP, Mitte), Grüne Partei der Schweiz (links).
Eine «extrem linke» SVP
Heute ist Doudaine kein Mitglied der SVP mehr: «Ich bin aus der Partei ausgetreten, als ich die Schweiz verlassen habe.» Sie unterstützt die Partei jedoch weiterhin bei eidgenössischen Abstimmungen. Sie teilt deren Parteipolitik zu «70 bis 80%». Am wenigsten identifizieren kann sie sich mit der Sozial- und Migrationspolitik der SVP.
In Frankreich ist Doudaine kein Mitglied einer politischen Bewegung, da sie auch hier «nicht zu 100% überzeugt» ist. Eine der Parteien, der sie sich am ehesten verbunden fühlt, ist «La France insoumise» von Jean-Luc Mélenchon (links).
Dem Parteivorsitzenden zieht sie jedoch einen der Abgeordneten, den Journalisten und Dokumentarfilmer François Ruffin, vor. Sie erklärt ausserdem, dass sie eine Vorliebe für die «Nouveau parti anticapitaliste» von Philippe Poutou (extreme Linke) hat, die einen anti-europäischen Kurs fährt.
Angesprochen auf das Paradoxon, in der Schweiz Mitglied der SVP gewesen zu sein und in Frankreich die antikapitalistische, kämpferische «Linke zu unterstützen, antwortet Doudaine: «Es gibt letztlich eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Ideen, die in Frankreich sehr links und in der Schweiz sehr rechts sind.» Sie denkt dabei an die EU-kritische Linie dieser Parteien sowie an die angesprochene Wählerschaft: In Frankreich sind es die Geringverdienenden und in der Schweiz die Landbevölkerung.
Keine Chance für die extreme Rechte
Anita Doudaine ist der Ansicht, dass La France insoumise und die Nouveau parti anticapitaliste «nicht nur Ideen, sondern auch Lösungen haben», was bei Marine Le Pen (Rassemblement National, rechtsextrem), Éric Zemmour (Reconquête, rechtsextrem) oder dem amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron (La République en marche, Mitte) nicht der Fall sei.
Sie wirft Letzteren vor, keinen Plan präsentiert zu haben, wie ihre Reformideen finanziert werden sollen – ganz im Gegensatz zu François Ruffin von La France insoumise. «Ich finde das wichtig, um zu wissen, ob die Ideen umgesetzt werden können oder nicht», so Doudaine.
Dass sich die beiden rechtsextremen Spitzenkandidaten Marine Le Pen und Éric Zemmour gegenseitig konkurrenzieren, findet die Schweizerin gut. «Das verringert das Risiko, dass einer der beiden die erste Runde schafft», sagt sie. «Auf jeden Fall ist keiner von beiden für mich wählbar!»
Sie glaubt, dass es sowohl Valérie Pécresse (Les Républicains, rechts) als auch Emmanuel Macron in den zweiten Wahlgang vom 24. April schaffen, obwohl sie keine grossen Unterschiede zwischen ihren Programmen feststellen kann.
«Katastrophale» Bilanz Macrons
Die fünfjährige Amtszeit des scheidenden Präsidenten bezeichnet Doudaine als «katastrophal». «Seit ich in Frankreich lebe, habe ich die Menschen noch nie so gespalten erlebt.» Sie kritisiert den Abbau von Spitälern und die Privatisierung von Seniorenheimen.
Sie räumt jedoch ein, dass nicht alle aktuellen Probleme Emmanuel Macron angelastet werden können. Die Verantwortung liege auch bei den vorherigen Regierungen, die eine «Pflästerlipolitik» betrieben hätten, ohne jemals die wirklichen Probleme anzugehen, die nun «dringend» seien und für die radikale Lösungen gefunden werden müssten.
Für Doudaine ist der Aufstieg der Extreme in Frankreich, sei es von links oder rechts, «das Ergebnis der letzten zwanzig Jahre in der Politik».
Die Gelbwesten (Gilets Jaunes)
Doudaine führt die Krise rund um die Protestbewegung «Gilets Jaunes» (Gelbwesten) auf einen resignierenden Staat zurück. Ab November 2018 gingen Hunderttausende Menschen in gelben Warnwesten auf die Strasse und führten Blockadeaktionen durch.
Zunächst aus Protest gegen die Erhöhung der Steuern auf Treibstoffe, später kritisierten die Gilets Jaunes allgemeiner die sinkende Kaufkraft und den Graben zwischen der Regierung in Paris und der Bevölkerung an anderen Orten Frankreichs.
Doudaine arbeitet heute in der Verwaltung. Sie beobachtet eine grosse Not. «Die Leute sind verzweifelt, wenn die vorgesehenen Hilfen nicht kommen oder wenn Strom, Gas und Benzin so stark besteuert werden, dass sie sich das nicht mehr leisten können. Oder wenn Menschen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, nur 700 Euro Rente im Monat bekommen und der Staat nichts tut.» Schuld daran sei auch eine Politik, die stark auf Städte und urbane Ballungsgebiete ausgerichtet sei, so Doudaine, «während es auf dem Land nicht einmal öffentliche Verkehrsmittel gibt.»
Aus Solidarität hat Anita Doudaine also aktiv an der Gelbwestenbewegung teilgenommen und geht noch immer ab und zu an Demonstrationen. Aber drei Jahre nach Beginn der Protestbewegung «herrscht eine gewisse Resignation». Sie hat den Eindruck, dass die Dinge nicht sehr weit vorangekommen sind.
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Ein Land, das unmöglich zu reformieren ist
Die Appenzellerin ist sich bewusst, dass es die Regierungen in Frankreich nicht leicht haben. Fast jede Ankündigung einer grossen Reform führt zu breiten Demonstrationen und Protesten. Deshalb glaubt sie, dass direkte Demokratie in Frankreich nicht möglich ist: «Die Menschen sind nicht bereit, persönliche Opfer für das Gemeinwohl zu erbringen, auch nicht diejenigen, die gut genug verdienen.»
Doudaine glaubt nicht, dass die französische Bevölkerung Volksentscheide akzeptieren würde, die knapp ausfielen. «Den demokratischen Prozess zu akzeptieren, braucht Zeit, man muss sich damit vertraut machen, über mehrere Generationen hinweg», sagt sie.
Der Schweizerin zufolge würde es eine radikale Umgestaltung des politischen Systems in Frankreich erfordern, um dem Volk mehr Mitsprache zu geben. «Denn eine direkte Demokratie mit einem Präsidenten oder einer Präsidentin an der Spitze und einer Mehrheit im Parlament ist nicht möglich. Er oder sie hätte zu viel Einfluss auf die Abstimmungen.»
Auch wenn sie nicht viele positive Aspekte an der französischen Zentralisierung findet, sieht sie einen Vorteil gegenüber dem Schweizer System: die Schnelligkeit. «Entscheidungen können schnell getroffen werden, und das ermöglicht es, schnell auf dringende Probleme zu reagieren», sagt sie.
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Sibilla Bondolfi
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