Der Ruf nach Bürger:innenwürde wird lauter
In der Schweiz engagieren sich Aktivist:innen für eine lückenlose Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention. Eine besondere Dynamik entstand um das Projekt Bla-Bla Vote in Lausanne. Ein Ortstermin.
Die Dämmerung senkt sich über Lausanne und François Desgalier erzählt und erzählt. Die drei anderen Vertreter:innen von Bla-Bla Vote beim Treffen finden Zeit für ihre Limonade, während Desgalier der Schnauf nicht ausgeht.
«Etwa 1,8 Millionen Menschen in der Schweiz haben eine Behinderung, von Lernschwierigkeiten bis zu folgenreichen Einschränkungen», erzählt er. Lange habe er als Behinderter in der Schweiz bloss als «Bürger in Anführungszeichen» gegolten. «Jetzt bin ich einfach ein Bürger.»
Um Bürger:in zu sein, braucht man Rechte. «Ich hatte immer meine politischen Rechte, aber ich kenne viele, bei denen das anders ist.» Die Anführungszeichen sind für Desgalier weggefallen, weil die UNO-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz die Chance auf Gleichberechtigung und Selbstermächtigung bringt – aber auch, weil er ein Umfeld gefunden hat, in dem er seine Leidenschaft für Politik ausleben und sich für die Umsetzung der UNO-Konvention engagieren kann.
Bereits ist es acht Jahre her, seit die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention 2014 ratifiziert hat. Aus Sicht von Desgalier, aber auch aus jener der Behindertenverbände in der Schweiz, ist sie aber weit von ihrer Umsetzung entfernt.
Er spüre zwar ein Engagement von Seiten der Politiker:innen. Doch es brauche noch mehr internationalen Druck von UNO und EU, falls die Schweizer Politik nicht handelt. Durch den Rauch seiner Pfeife sagt Desgalier: «Stillstand ist exakt das, was es jetzt nicht geben darf.»
Fast 15’000 Schweizer:innen ohne politische Rechte
Die politischen Rechte sind nur ein Teilbereich dieser UNO-Konvention, aber unter anderem ausgerechnet bei der Demokratie hinkt die Schweiz hinterher. In Artikel 136 der Schweizer Verfassung steht «Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten.» Der Satz direkt davor schränkt dies jedoch ein: Schweizer:innen, die «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt» sind, dürfen weder wählen noch abstimmen.
2020 waren es fast 15’000 Menschen in der Schweiz, die ihre politischen Rechte nicht ausüben durften. Neben diesem offiziellen Ausschluss sind den Schweizer Behindertenverbänden auch Fälle bekannt, wo die Abstimmungsunterlagen von Menschen mit Behinderungen, die in einer Institution leben, einfach vernichtet worden sind.
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Historisch: Genf erteilt Behinderten das Stimmrecht
Länder wie die Niederlanden, Grossbritannien, Schweden, Frankreich, Italien und Deutschland haben die Diskriminierung von Menschen mit einer geistigen Behinderung bei den politischen Rechten bereits aufgehoben.
Doch jetzt hat sich um das Thema eine Dynamik entwickelt: Im Frühjahr soll die Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative starten; eine Petition und einige Kundgebungen haben stattgefunden. Auch der Bundesrat, das Parlament und einige Kantone sind in Bewegung. So ist die Regierung momentan mit dem Ausarbeiten eines Berichts beschäftigt, den das Parlament gefordert hat.
Dieser soll den Weg hin zu politischer Teilhabe aufzeigen. Dass die politische Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung bereits in der Bevölkerung verankert ist, zeigte sich als der Kanton Genf Ende 2020 darüber abstimmte: 75% stimmten zu. Der Kanton Genf kennt nun keinen Ausschluss mehr.
Das Engagement von Eben-Hézer reicht bis ins Jahr 2014 zurück, als die Schweiz die Behindertenrechtskonvention ratifizierte. Damals startete Véronique Nemeth, Animatorin im Centre de Loisirs d’Eben-Hézer, «Tous citoyens». Die Bewegung setzt sich für eine Umsetzung der Behindertenrechtskonvention ein, dass Menschen mit Behinderungen als vollwertige Bürger:innen anerkannt werden. In diesem Zusammenhang wurde Bla-Bla Vote ins Leben gerufen.
Über das wichtigste Anliegen von Bla-Bla Vote findet im Kanton Waadt bald eine Volksabstimmung statt: Letzten Herbst stimmte das Kantonsparlament für einen Vorstoss, der allen mit Schweizer Pass die politischen Rechte geben will. Vor der Abstimmung bekamen die Politiker:innen Broschüren von Behindertenrechtsaktivist:innen in die Hand gedrückt. Deren Titel war: «Voter c’est exister». Wie in Genf treffen nun die Stimmberechtigten in einer Volksabstimmung die endgültige Entscheidung.
Das Engagement von Anne Tercier
Im kantonalen Vergleich sticht der Kanton Waadt hervor, wo die politischen Rechte besonders oft verweigert oder entzogen werden: 2020 lebten hier 4000 Ausgeschlossene – mehr als ein Viertel der schweizweit der schweizweiten Zahl. Anne Tercier aus Lausanne, die seit ihrem 18. Lebensjahr zu jeder Wahl und jeder Abstimmung ging, wurden 2018 nach einer Änderung im kantonalen Beistandsschaftsgesetz die politischen Rechte entzogen – wegen ihrer geistigen Behinderung.
Für Tercier war die politische Mitbestimmung zuvor aber eng verknüpft mit ihrem Selbstverständnis: «Abzustimmen bedeutet, als vollwertige Bürgerin anerkannt zu werden. Da meine Stimme gleich viel zählt wie alle anderen.»
Tercier trat in vielen Medien auf und gilt als wichtiges Exempel für die Abstimmung in Genf. Nur einen Monat nach dem Abstimmungserfolg ist sie 41-jährig verstorben. Tercier lebte seit 2002 in der Einrichtung einer Behindertenstiftung in Lausanne. Dort heisst es, Tercier war «die Initiatorin des Kampfes für die Anerkennung der politischen Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf und in der Waadt».
François Desgalier ist einer der «Externen» bei ebendieser Stiftung – er lebt privat, aber arbeitet dort in den Werkstätten. «Anne Tercier hat es geschafft: Sie hat ihren politischen Kampf gewonnen. Und ihr Fall hat dazu beigetragen, dass die Politiker:innen Menschen mit Behinderungen, denen das Wahlrecht vorenthalten worden ist, anders behandeln», sagt Desgalier.
Mit geschützten Werkstätten verbindet man das Stereotyp simpler, repetitiver Arbeit. Doch bei dieser Stiftung, Eben-Hézer mit Name, führt Desgalier unter anderem Radio-Interviews mit Historiker:innen zur Geschichte der Sozialversicherungen in der Schweiz. Die Begünstigten und Bewohner:innen von Eben-Hézer betreiben eine eigene Zeitung, machen Podcasts, haben eine Kommunikationsagentur – und sie stehen zusammen mit dem Quartierzentum Chailly hinter dem Projekt Bla-Bla Vote. Desgalier sagt, bei Bla-Bla Vote gehe es um Selbstermächtigung.
Das Konzept Bla-Bla Vote
Bla-Bla Vote ist eine regelmässige Podiumsdiskussion und gleichzeitig ein Podcast, wo zwei Politiker:innen jeweils ein Abstimmungsthema diskutieren. Immer treffen eine Kontra- und eine Pro-Position aufeinander. «Aber die Debatte ist selten konfliktreich.
Es geht eher um eine ständige Neuformulierung der Argumente der Personen, die sich zu Wort melden, damit alle Teilnehmer:innen verstehen, worum es bei einer Abstimmungsvorlage geht», erklärt Omar Odermatt von Eben-Hezer, der die Blabla-Votes-Veranstaltungen co-moderiert. Die Moderator:innen übernehmen einzig die Gesprächsleitung. Die Fragen entwickeln und stellen jene, die bei Bla-Bla Vote engagiert sind.
Omar Odermatt war ursprünglich als Nachtwache angestellt. «Wenn die Nächte lang waren, erklärte ich den Bewohner:innen die aktuellen Abstimmungsvorlagen», erinnert sich Odermatt. Dies drang zum stellvertretenden Direktor von Eben-Hézer durch. «Schliesslich wurde ich zu einer Art Animator für politische Debatten», sagt der studierte Politologe Odermatt schelmisch.
Weltweit stecken Demokratien in Krisen. Seit rund 15 Jahren gibt es ein Trend zu Autoritarismus und Diktaturen.
Die Schweiz ist hingegen ein Hort der Stabilität. In der Regierung sitzen fast alle Parteien kollegial, vorgezogene Neuwahlen gibt es nie – und trotzdem können die stimmberechtigten Bürger:innen in Initiativen und Referenden so oft über Themen abstimmen wie in keinem anderen Land der Welt.
Doch die Geschichte der Schweizer Demokratie ist auch eine Geschichte darüber, wer mitbestimmen darf und wer nicht. Bei der Gründung des Bundesstaates 1848 waren nur 23% der Bevölkerung stimmberechtigt und die längste Zeit ihrer Geschichte hat die Schweizer Demokratie die Hälfte der Bevölkerung ausgeschlossen – erst seit gut 50 Jahren haben Frauen politische Rechte. Doch bis heute können viele in der Schweiz nicht mitreden.
Wer mitreden darf und wer nicht, ist politisch umstritten. Die deutliche Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hat bisher eine Ausweitung der politischen Rechte, etwa auf niedergelassene Ausländer:innen, stets abgelehnt. So wie die JSVP-Politikerin und Juristin Demi Hablützel, die in ihrem Meinungsbeitrag schreibt: «Politische Rechte sind kein Tool zur Inklusion».
Doch der heiklen Frage, wer wie umfassend mitbestimmen darf, müssen sich Demokratien immer wieder neu stellen. Besonders wenn die liberale Demokratie global nicht mehr unwidersprochen der Normalfall ist, müssen demokratische Staaten den eigenen Ansprüchen gerecht werden.
Deshalb widmet sich SWI swissinfo.ch in dieser Serie der politischen Inklusion. Wir befassen uns mit Debatten und Diskussionen darum, wer in der Schweiz wieviel mitbestimmen darf. Wir sprechen mit Expert:innen. Wir stellen Menschen und Bewegungen vor, die sich für umfassende politische Inklusion verschiedener Minderheiten und Marginalisierten in der Schweiz einsetzen.
Übrigens gehörten auch die Auslandschweizer:innen lange zu den Ausgeschlossenen – erst seit 1992 dürfen sie wählen und abstimmen.
Desgalier ist in einem Elternhaus aufgewachsen, wo das Debattieren am Esstisch Alltag war. Sein Vater war Gewerkschafter. Andere, die sich bei Bla-Bla Vote engagieren, sind sich politische Diskussionen weniger gewöhnt. «Die Vorbereitung von Bla-Bla Vote braucht darum Zeit.» Das wichtigste ist, alle mitzunehmen. Es ist die wohl schwellenfreiste Politikveranstaltung der Schweiz: Komplizierte Begriffe wie die «AHV» werden in Leichter Sprache und geduldig erklärt.
Die Bla-Bla Vote-Podiumsdiskussionen werden auch von Menschen ohne Behinderung gerne besucht. «Das Angebot ist wirklich für die lokale Bevölkerung», sagt Co-Moderatorin Nadège Marwood vom Quartierzentrum Chailly, «Es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, wo sich alle ausdrücken können.» Noch nie habe ein:e Politiker:in die Einladung von Bla-Bla Vote abgelehnt.
Editiert von Balz Rigendinger
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