Internationale Krisen verleihen Dialog-Plattform Genf Auftrieb
Während der UNO-Sicherheitsrat Mühe bekundet, die aktuellen internationalen Krisen – in der Ukraine, im Nahen Osten oder in Afrika – zu lösen, markieren Spitzenpolitiker und Chefdiplomaten in Genf am Rande der März-Session des Menschenrechtsrats ihr Territorium und arbeiten hinter den Kulissen an Lösungen.
Zum Auftakt der Hauptsession des UNO-Menschenrechtsrats (HRC)Externer Link herrschte bei der Debatte in der ersten Sitzungswoche dieses Jahr besonders grosser Andrang. Gegen 100 Staats- und Regierungschefs und Minister traten im Saal XX ans Podium, unter der eindrücklichen, vom spanischen Künstler Miquel Barceló gestalteten gewölbten Decke.
«Es ist ein Trend, der in den letzten Jahren stetig zugenommen hat. Die Staaten nehmen an dieser Debatte teil, um ihre Politik zu präsentieren. Man erhält einen guten Einblick in die Prioritäten jedes Landes», erklärt Adrien-Claude Zoller. Seit mehr als 40 Jahren beobachtet der Gründer der Nichtregierungs-Organisation «Genf für Menschenrechte» die komplexe Welt der UNO-Institutionen, die sich mit Menschenrechts-Fragen befassen.
Die hochrangige Präsenz in Genf durch die Aussenminister der USA oder Russlands lässt sich dieser Tage durch die Spannungen und Kriege erklären, welche die Welt aktuell erschüttern.
Zwei gegensätzliche Visionen
Doch am ersten Tag der Session machten John Kerry und Sergej Lawrow deutlich, was sie in Bezug auf Freiheitsrechte ideologisch trennt.
John Kerry versicherte, die Vereinigten Staaten würden die «Herausforderungen» anerkennen, die sich ihnen «im Bereich der Menschenrechte aufgrund ihrer Geschichte und der Gegenwart» stellten. Kerry bekräftigte aber auch, dass er kein anderes Land kenne, das derart viel für die Stärkung der Menschenrechte unternommen habe wie seines.
Burkhalter in Sorge
Zu den ersten Rednern zum Auftakt der Session des Menschenrechts-Rats gehörte der Schweizer Aussenminister Didier Burkhalter, der den Kampf gegen Terrorismus ins Zentrum stellte und die Gewalttätigkeiten von terroristischen Gruppen anprangerte, welche die Grundwerte unserer Gesellschaft attackierten.
«Was gibt es Schlimmeres, als kleine Mädchen zu Selbstmordattentaten auf Märkten voller Menschen zu zwingen?
Was gibt es Grausameres, als Attentate auf Schulkinder zu verüben, die dabei sind, sich auf das Leben vorzubereiten?
Was gibt es Schändlicheres, als die Meinungsfreiheit zum Schweigen bringen zu wollen?
Was gibt es Intoleranteres, als die Symbole und die Realität von Religionen zu zerstören, seien diese jüdischen, christlichen, islamischen oder sonstigen Ursprungs?»
«Wir müssen den Terrorismus mit unseren Werten an der Wurzel bekämpfen.»
Sergej Lawrow erwiderte, die internationale Gemeinschaft sollte «frei sein von Messianismus und die Vielfalt der Welt respektieren».
Für den amerikanisch-schweizerischen Politologen Daniel Warner «ist es immer gut zu sehen, wenn hochrangige Vertreter nach Genf kommen, die den Menschenrechts-Rat ernst nehmen. Wir befinden uns aber in einem Moment sehr grosser diplomatischer Aktivitäten, ob es um Iran, Israel oder die Ukraine geht, um Libyen oder Syrien. Dies sind Dossiers, in denen die Menschenrechtsfrage nur schwer einen Platz findet.»
«Um eine Lösung für die iranische Nuklearfrage zu finden, müssen die Russen mit eingebunden sein», erklärt Warner. «Es ist interessant zu sehen, wie Lawrow und Kerry dieses Dossier und auch die Ukraine am Rande des Menschenrechts-Rats zur Sprache bringen. Diese privaten Diskussionen zeigen deutlich, dass es für diese gewichtigen Akteure eine Verbindung gibt zwischen den verschiedenen Problemen, und es ein Mindestmass an Zusammenarbeit braucht.»
Hektik hinter den Kulissen
Solche Gespräche finden zum grossen Teil ausser Reichweite von Mikrofonen und Kameras statt. «Hinter den Kulissen des HRC finden viele Gespräche statt. Und diese Diskussionen auf höchstem Niveau sind absolut notwendig», unterstreicht Warner.
Ähnlich sieht es Adrien Claude Zoller. «Es entwickelt sich zu einem Forum, bei dem Positionen bekräftigt werden, aber es gibt auch enorm viele Begegnungen hinter den Kulissen, Auftakte zu künftigen, neuen Verhandlungen oder eine Gelegenheit, spätere Konfrontationen zu verhindern. Da es in Genf nur relativ wenige grosse Hotels gibt, kann man sich einfach treffen. Es ist ein multilateraler Bereich, der über das Thema Menschenrechte hinaus geht.»
Droht nicht die Gefahr, dass die Menschenrechte angesichts all der diplomatischen Aktivität in den Hintergrund rücken? François Nordmann, ehemaliger Schweizer Botschafter und heute Berater für internationale Beziehungen, glaubt nicht daran: «Man äussert sich trotzdem unter dem Blickwinkel der Menschenrechte und diese hochrangige Präsenz zeigt, dass der Rat funktioniert und nicht in Frage gestellt wird.»
Adrien Claude Zoller präzisiert: «Diese erste Woche auf hochrangigem Niveau hat praktisch keinen Einfluss auf die Menschenrechts-Debatte. Es ist fast ein bisschen, als ob der Rat seine Arbeit um ein paar Tage hinausschieben würde. Sind die Staatschefs, die Aussenminister einmal abgereist, nimmt der Rat seine Arbeit wirklich auf.»
Fidschi-Inseln und Botswana
Zoller sagt zudem, man sollte sich nicht nur auf die Vertreter der Grossmächte konzentrieren.
Und verweist auf die Republik Fidschi im Pazifischen Ozean: «Nach zahlreichen Staatsstreichs hat Fidschi heute eine gewählte Regierung. Dass der Premierminister jetzt nach Genf reiste, ist ein wichtiger Moment für Fidschi und für jene, die sich mit den Problemen befassen, welche die Insel plagen, wie zum Beispiel die Rassendiskriminierung.»
Warnrufe des IKRK
Auch Peter Maurer, der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ergriff vor dem Menschenrechts-Rat das Wort:
«Menschlichkeit will, dass alle Verletzten und Kranken, ohne jegliche Unterscheidung, Zugang zu medizinscher Versorgung haben müssen.
Menschlichkeit setzt der exzessiven Anwendung von Gewalt Grenzen und macht die Nutzung von Waffen inakzeptabel, die es unmöglich machen, zwischen Zivilsten und Kämpfern zu unterscheiden, genauso wie Waffen, deren Auswirkungen dem öffentlichen Gewissen zuwider laufen.
Menschlichkeit, das ist die Garantie für eine Behandlung, welche die Menschenwürde unter allen Umständen respektiert, vor allem jene von gefangenen Feinden und von Gefangenen generell.»
Als weiteres Beispiel nennt Zoller Botswana, das innerhalb Afrikas bemerkenswerte Land, in dem es seit der Unabhängigkeit nie einen Putsch gab. «Nun hat die Regierung ihre Menschenrechts-Politik völlig neu ausgerichtet, für die jetzt das Aussenministerium zuständig ist, und der Minister ist nach Genf gekommen, um diese Politik zu bekräftigen.»
Pelonomi Venson-Moitoi erwähnte denn auch die Massnahmen, die sein Land ergriffen habe, «um die Menschenrechte voranzubringen und das Engagement im demokratischen Prozess sicherzustellen, ein Engagement, das durch die generellen Wahlen im vergangenen Oktober illustriert wurde».
Zweierlei Mass?
Bleibt die Frage, ob erneut eine Politisierung der Debatten droht, welche die ehemalige Menschenrechts-Kommission – die ersetzt wurde durch den heutigen Menschenrechtsrat – untergraben hatte.
Diese Ansicht vertritt Javad Zarif, Aussenminister der Islamischen Republik Iran: «Trotz der Errungenschaften der Vereinten Nationen überwiegt die Neigung zur Politisierung, mit negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte. Dieses Phänomen hat unauslöschliche Spuren in den Verfahren und Mechanismen des Rats hinterlassen, wie die Selektivität, oder dass mit zweierlei Mass gemessen wird.»
Und, doppelt der iranische Minister nach: «Während man gegen Intoleranz kämpft, religiöse einbegriffen, rechtfertigt man – unter dem Vorwand der freien Meinungsäusserung – Karikaturen, welche alle Muslime auf der ganzen Welt verletzen.»
Und indem er die jüngsten Attentate in Paris, Kopenhagen und anderswo in Europa zu vergessen schien, fügte Javid Zarif hinzu: «Wie kommt es, dass die Mehrheit der Kämpfer in terroristischen Gruppen Bürger zweiter Klasse aus westlichen Ländern sind? Wieso operieren diese Gruppen nur im Nahen Osten oder in Afrika?», fragte der Minister.
Ohne sich zu den Erklärungen des iranischen Ministers zu äussern, stellte François Nordmann fest: «Es besteht in der Tat ein Risiko zur Politisierung. Der Menschenrechtsrat ist kein Experten-Organ. Es ist ein Rat, er setzt sich aus Staaten zusammen und entwickelt die Politik der Menschenrechte.»
UNO geht nicht unter
Eines ist nach Ansicht von Daniel Warner klar: die UNO stellt ihre Widerstandskraft unter Beweis. «Mit Blick auf ihre grundlegende Rolle für die Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens zeigt diese Art von Session, dass die UNO nicht so überholt ist, wie gewisse Kreise denken. Mindestens die Normen des Völkerrechts werden vom Menschenrechts-Rat aufrecht erhalten, auch wenn die UNO grosse Schwierigkeiten hat, für ihre Einhaltung zu sorgen.»
Was die grossen politischen Krisen angeht, die zur Zeit die Welt erschüttern, sieht Daniel Warner zumindest einen Hoffnungsschimmer: «Man spricht von einem neuen Kalten Krieg oder einem möglichen Dritten Weltkrieg. Aber hier in Genf hat man auch gesehen, dass Kerry und Lawrow versuchen, in mehreren Dossier zu kooperieren.»
Ewiges Thema Israel
In seiner Rede Anfang Woche in Genf beklagte US-Aussenminister John Kerry die «Obsession» des Menschenrechts-Rats für Israel. Dabei verwies er darauf, dass Israel einen ständigen Platz auf der Agenda habe und auf die wachsende Zahl der Resolutionen in dem Zusammenhang.
Diese verbale Unterstützung Kerrys für Israel erfolgte zu einem Zeitpunkt, als der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu in den USA weilte und bei einer Rede vor dem Kongress eine mögliche künftige Vereinbarung über das iranische Atomprogramm an den Pranger stellte, ein Besuch, über den Präsident Barack Obama sehr verärgert war.
Der Berater François Nordmann ruft in Erinnerung, dass die von John Kerry vertretene Position seit Jahren ein Leitmotiv der amerikanischen Aussenpolitik ist.
Der Politologe Daniel Warner schätzt, dass diese Position den Menschenrechts-Rat und seine Untersuchungen über Verstösse des humanitären Völkerrechts in Folge der regelmässigen Kriege zwischen der palästinensischen Hamas und der israelischen Armee schwächt.
«Im israelischen Dossier kann der Menschenrechts-Rat wegen der amerikanischen Führungslücke nicht mehr Macht entwickeln. Der Sonderberichterstatter, der letzten Sommer mit den Untersuchungen des Gaza-Kriegs beauftragt war, demissionierte und sein Nachfolger wurde weit herum scharf kritisiert.»
Daniel Warner weist aber auch darauf hin, dass Israel die Universelle Periodische Überprüfung nicht mehr boykottiert – das Hauptinstrument des Menschenrechts-Rats, mit dem regelmässig die Menschenrechts-Bilanz der einzelnen Staaten überprüft wird.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch