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Internationale Verbrechen und der Ukraine-Krieg

Komplette Verwüstung in Butscha
Der Krieg als Tatort: Ein ukrainischer Soldat in Butscha, am Stadtrand von Kiew, im April 2022. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved.

Die Debatte um ein Sondertribunal, das die Verbrechen der Aggression der russischen Führung untersuchen soll, erhitzt die Gemüter. Wir werfen einen Blick auf die verschiedenen Arten internationaler Verbrechen und die Rolle, welche ein Sondertribunal im Ukrainekrieg spielen könnte.

Was sind internationale Verbrechen?

Internationale Verbrechen umfassen in der Regel Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie das Verbrechen der Aggression. Letzteres wurde jedoch erst einmal von einem Gericht strafrechtlich verfolgt – bei den von den siegreichen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichteten Nürnberger ProzessenExterner Link.

Verschiedene Vertreter des besiegten Nazi-Deutschlands wurden zwischen 1945 und 1946 wegen der Planung und Durchführung von militärischen Angriffen auf andere Länder, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt.

Internationale Verbrechen gelten als die schwersten aller Verbrechen. Sie unterliegen keiner Verjährungsfrist, so dass mutmasslich verantwortliche Personen auch noch nach Jahrzehnten vor Gericht gestellt werden können.

So befand ein deutsches Gericht im Dezember 2022 eine 97-jährige Frau, die als Sekretärin für den Kommandanten eines NS-Konzentrationslagers gearbeitet hatte, für schuldig, an der Ermordung von mehr als 10’500 Menschen beteiligt gewesen zu sein.

Seit Nürnberg und besonders seit den 1990er-Jahren wurden verschiedene internationale Gerichtshöfe eingerichtet, um internationale Verbrechen zu verfolgen (allerdings nicht das Verbrechen der Aggression).

Beispiele hierfür sind der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) sowie die Ausserordentlichen Kammern an den Gerichten Kambodschas (ECCC).

Einige Länder, darunter die Schweiz, können internationale Verbrechen vor ihren eigenen Gerichten nach dem Prinzip der «universellen Gerichtsbarkeit» verfolgen. So verurteilte ein Schweizer Gericht im Juni 2021 den ehemaligen liberianischen Rebellenführer Alieu Kosiah wegen Kriegsverbrechen, darunter Mord, Folter und Vergewaltigung, zu 20 Jahren Gefängnis.

Der 2002 gegründete Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist ebenfalls für internationale Verbrechen zuständig. Er hat 2017 das «Verbrechen der Aggression» in sein Statut aufgenommen.

Allerdings kann er dieses Verbrechen nur unter restriktiven Bedingungen verfolgen. Für den Fall der Ukraine treffen diese nicht zu, da Russland keine Vertragspartei des Römischen StatutsExterner Link ist, mit dem der IStGH gegründet wurde.

Was sind Kriegsverbrechen?

Kriegsverbrechen sind Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, auch bekannt als Recht der bewaffneten Konflikte oder Kriegsvölkerrecht. Im Mittelpunkt der 1899 und 1907 verabschiedeten Haager Konventionen steht das Verbot bestimmter Mittel und Methoden der Kriegsführung.

Seither wurden mehrere ähnliche Verträge verabschiedet. Die Genfer Konvention von 1864 und die nachfolgenden Genfer KonventionenExterner Link, speziell die vier von 1949 und die beiden Zusatzprotokolle von 1977, konzentrieren sich auf den Schutz von Personen, die nicht oder nicht mehr an Kampfhandlungen teilnehmen. Dazu zählen Zivilpersonen und Kriegsgefangene. Es existiert jedoch kein einziges Dokument des Völkerrechts, in dem alle Kriegsverbrechen kodifiziert sind.

Bus und Menschen
Russische Soldaten kontrollieren das Einsteigen von Zivilpersonen, die im Mai 2022 aus Mariupol evakuiert wurden, in einen Bus. Nach Angaben der ukrainischen Behörden wurden allein aus dieser Stadt 15’000 Zivilpersonen illegal nach Russland deportiert. Keystone / Alessandro Guerra

Kriegsverbrechen werden im IStGH-Statut namentlich definiert als «schwere Verstösse gegen die Genfer Konventionen vom 12. August 1949»Externer Link, darunter vorsätzliche Tötung, Folter, Vergewaltigung, Plünderung, rechtswidrige Vertreibung oder Deportation. Die Definition des IStGH umfasst auch vorsätzliche Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und zivile Objekte, die keine militärischen Ziele sind.

Der IStGH hat mehrere Personen wegen Kriegsverbrechen verurteilt, darunter die ehemaligen kongolesischen Warlords Thomas Lubanga (zu 14 Jahren Haft wegen Kriegsverbrechen wie der Anwerbung und Einberufung von Kindersoldaten), Germaine Katanga (12 Jahre wegen Kriegsverbrechen und Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und Bosco Ntaganda (30 Jahre wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit).

2016 verurteilte der IStGH den malischen Dschihadisten Ahmad al-Faqi al-Mahdi zu neun Jahren Haft für das Kriegsverbrechen der vorsätzlichen Leitung von Angriffen auf religiöse und kulturelle Einrichtungen in Timbuktu im Juni und Juli 2012.

Ausserdem verurteilte das Gericht 2021 den Ugander Dominic Ongwen, einen ehemaligen Kommandanten der berüchtigten Lord’s Resistance Army (LRA), wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Mord, Vergewaltigung, Folter und Versklavung, zu 25 Jahren Haft.

Was sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Verbrechen gegen die MenschlichkeitExterner Link werden in den Statuten der internationalen Strafgerichtshöfe als schwere Verbrechen definiert, «die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen» wurden.

Zu den berüchtigten Persönlichkeiten, die wegen solcher Verbrechen verurteilt wurden, zählen der Nazi-Propagandist Julius Streicher (vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zum Tod verurteilt und 1946 gehängt); der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic (2016 vom ICTY wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen und Völkermord in Srebrenica zu lebenslanger Haft verurteilt) und der Ideologe der Roten Khmer, Nuon Chea, bekannt als «Bruder Nr. 2» des Pol-Pot-Regimes (2014 vom ECCC zu lebenslanger Haft verurteilt, 2019 während der Verbüssung der Strafe verstorben).

Radovan Karadzic sitzt im Gerichtssaal des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien
Der bosnisch-serbische Kriegsführer Radovan Karadzic sitzt im Gerichtssaal des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag bei der Verlesung seines Urteils, 2016. Keystone / Robin Van Lonkhuijsen

Verbrechen gegen die Menschlichkeit können unter anderem Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, gewaltsame Deportation oder Vertreibung der Bevölkerung, Folter und Vergewaltigung umfassen. Das IStGH-Statut umfasst auch den Straftatbestand der Apartheid.

Was ist Völkermord?

Der Begriff «Völkermord» wurde 1944 vom polnischen Juristen Raphäel Lemkin geprägt. Später setzte sich Lemkin dafür ein, dass Völkermord als internationales Verbrechen anerkannt und kodifiziert wird.

In der Völkermordkonvention von 1948Externer Link werden bestimmte Handlungen beschrieben, «die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».

Dazu gehören die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe, die Verursachung von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Mitgliedern einer Gruppe, die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen, die Verhängung von Massnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe und die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Der Begriff Völkermord, der manchmal auch als «Verbrechen der Verbrechen» bezeichnet wird, ist politisch aufgeladen, da er zumindest im Prinzip eine Pflicht zur Verhinderung und Bestrafung durch die internationale Gemeinschaft impliziert.

Allerdings ist er vor Gericht nur schwer zu beweisen, vor allem weil der Vorsatz nachgewiesen werden muss. Nur drei Völkermorde wurden von einem Gericht rechtlich anerkannt: in Ruanda (Völkermord an den Tutsi, 1994), in Bosnien (Massaker von Srebrenica, 1995) und in Kambodscha unter dem Pol-Pot-Regime zwischen 1975 und 1979.

Was hat die Justiz bisher für die Ukraine getan?

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 und der anhaltende Krieg haben zu einer beispiellosen Welle justizieller ReaktionenExterner Link geführt, sowohl seitens der internationalen Gemeinschaft als auch seitens der Ukraine selbst.

Die Ukraine hat bereits einige Prozesse abgehaltenExterner Link und mehrere Verurteilungen ausgesprochen. Der IStGH hat eine Untersuchung eingeleitet. Mehr als 15 Länder, darunter die Schweiz, haben Einheiten zur Sammlung von Beweismaterial, besonders von Flüchtlingen, für mögliche künftige Prozesse vor nationalen oder internationalen Gerichten eingerichtet.

Exhumierung der sterblichen Überreste eines Mädchens
Sammlung von Beweisen: Anwohnende helfen der Polizei, der Gerichtsmedizin und der Staatsanwaltschaft bei der Exhumierung der sterblichen Überreste eines 15-jährigen Mädchens, das während der russischen Besatzung ausserhalb von Cherson getötet worden sein soll, November 2022. Keystone / Roman Pilipey

Ausserdem hat der UNO-Menschenrechtsrat im März 2022 eine unabhängige Untersuchungskommission zur Ukraine eingesetzt, die mutmassliche Verstösse gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht untersuchen und Beweise für «künftige Gerichtsverfahren» sichern soll.

Es könnte jedoch Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern, bis die russische Führung um Präsident Wladimir Putin und Aussenminister Sergei Lawrow vor Gericht gestellt werden.

«Was die russische Aggression betrifft, handelt es sich um eine Aufgabe, die sicherlich Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird», sagte Philip Grant, Direktor der in Genf ansässigen Anti-Straflosigkeits-NGO TRIAL International, im Oktober gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Schweizer Sender RTS. «Aber in jedem Fall müssen wir die Beweise dokumentieren und sichern, das Bewusstsein der Opfer schärfen und versuchen, Akten anzulegen.»

Die mutmasslichen Täter in Gewahrsam zu nehmen, ist eine grosse Herausforderung. Bei führenden Politikern kommt das Problem der Immunität hinzu, was bedeutet, dass beispielsweise Putin wahrscheinlich nur vor Gericht gestellt werden kann, wenn er in Russland entmachtet und/oder seine Immunität aufgehoben wird.

Slobodan Milosevic musste sich dem ICTY erst stellen, nachdem er als serbischer Präsident zurückgetreten war. Er war angeklagt, während des Bosnienkriegs in den 1990er-Jahren Kriegsverbrechen und einen Völkermord begangen zu haben, starb jedoch während seines Prozesses in Haft.

Auch der ehemalige liberianische Präsident Charles Taylor wurde erst vor Gericht gestellt, nachdem er gestürzt worden und ins Exil geflohen war. Der 2012 von den Vereinten Nationen unterstützte Sondergerichtshof für Sierra Leone verurteilte ihn wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Liberias Nachbarland Sierra Leone zu 50 Jahren Haft.

Charles Taylor während seines Prozesses vor dem von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichtshof für Sierra Leone
Der ehemalige liberianische Präsident Charles Taylor während seines Prozesses vor dem von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichtshof für Sierra Leone 2011. Keystone / Jerry Lampen

Der IStGH konnte den ehemaligen sudanesischen Präsidenten Omar Al-Bashir, den er 2009 und 2010 wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Darfur angeklagt hatte, immer noch nicht zur Rechenschaft ziehen.

Er wurde 2019 von der Macht verdrängt und wegen Korruption im Sudan verurteilt. Doch entgegen allen Versprechungen zögert die MilitärregierungExterner Link des Landes, ihn an den IStGH auszuliefern.

Welche Vor- und Nachteile hätte ein Russland-Tribunal?

Seit Beginn des Kriegs in der Ukraine plädieren einige Juristinnen und Juristen für ein Sondertribunal, um die russische Führung wegen des Verbrechens der Aggression anzuklagen. Sie halten dies für notwendig, da derzeit kein Gericht für die Verfolgung dieses Verbrechens zuständig ist, aus dem sich alle anderen Verbrechen ableiten.

Die Ukraine und einige andere – überwiegend osteuropäische – Länder drängen ebenfalls darauf. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sprach sich im November dafür ausExterner Link. Es gibt jedoch noch viele Unklarheiten und offene FragenExterner Link, unter anderem, welche Form und welches Mandat ein solches Tribunal haben könnte.

Einige argumentieren, dass ein Sondertribunal, das hochrangige Vertreter der russischen Führung wegen Verbrechen der Aggression vor Gericht stellen soll, als einseitige Justiz angesehen würde und keine Legitimität hätte, wenn es nicht auf einem internationalen Konsens beruht. Ein solcher ist aber unwahrscheinlich. Käme die Idee in den UNO-Sicherheitsrat, würde sie mit ziemlicher Sicherheit am Veto Russlands und Chinas scheitern.

Auch einige westliche Staaten dürften sich mit der Idee nicht anfreunden können. Sie befürchten, es könnte die Tür für andere künftige Strafverfolgungen öffnen, etwa gegen wichtige Persönlichkeiten der USA oder Grossbritanniens wegen Aggressionen im Irak oder in Afghanistan.

Auch wenn der Nachweis der Verantwortung der russischen Führung für die Invasion in der Ukraine einfach erscheint, ist die Untersuchung und strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit äusserst komplex.

Die ehemalige Anklägerin des ICTY und des ICTR, die Schweizerin Carla Del Ponte, argumentiert, dass diese Verantwortung bereits bewiesen sei. Einige Stimmen zeigen sich jedoch besorgt, dass ein Sondertribunal lediglich viel Geld für Abwesenheitsprozesse ausgibt oder wenig glaubwürdige Ergebnisse erzielt, solange es nicht in der Lage ist, die russische Führung zu fassen.

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Editiert von Imogen Foulkes. Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der Internationale Strafgerichtshof hat eine Untersuchung gegen Russland eröffnet. Auch andere Gerichte befassen sich mit dem Krieg in der Ukraine.

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