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Internationaler Tag der Demokratie: «Ein Ideal, das man nie vollständig erreicht»

Sabine Jenni auf dem Bahnhofplatz in Bern.
Der Kontakt mit verschiedenen Menschen gehört für Sabine Jenni, Geschäftsleiterin des Vereins Demokrative, zur Demokratie. Vera Leysinger/SWI swissinfo.ch

Wie steht es um die politische Bildung in der Schweiz? Und: Warum ist der Schulunterricht der richtige Nährboden dafür? Antworten von Sabine Jenni, Geschäftsleiterin von Demokrative, einem Verein zur Förderung der politischen Bildung, zum Tag der Demokratie.

SWI swissinfo.ch: Sabine Jenni, Sie setzen sich mit ihrem Verein für politische Bildung ein. Fehlt hier etwas in der Musterdemokratie Schweiz?

Sabine Jenni: Natürlich gibt es Einzigartiges an der Demokratie Schweiz, wie zum Beispiel Partizipationsmöglichkeiten. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt der Demokratie, aber nicht der einzige. Deswegen würde ich mich aus wissenschaftlicher Sicht nicht auf die Äste herauslassen und die Schweiz als Musterdemokratie bezeichnen. Eine Demokratie ist immer ein Ideal, das man nie vollständig erreicht. Einiges könnte verbessert werden, nur schon, weil die Zeiten sich ändern. Eine Demokratie muss man immer pflegen und darum braucht es den Tag der Demokratie am 15. September.

Mit Ihrer Organisation Demokrative arbeiten Sie mit Netzwerken in anderen Ländern Europas zusammen. Wie steht es um die politische Bildung in der Schweiz im internationalen Vergleich?

Die Einstellung, wir seien eine Musterdemokratie ist weit verbreitet. Aber angesichts dieses Selbstbildes und dieses eigenen Anspruchs haben wir in der breiten Bevölkerung ein wahnsinnig tiefes Bewusstsein dafür, wie wichtig politische Bildung ist. Das ist ein grosser Unterschied zum Beispiel zu Deutschland, wo ein vielfältiges Angebot existiert.

Auffällig ist auch, dass Menschen aus osteuropäischen Ländern und aus neueren Demokratien ein stärkeres Bewusstsein für diese Errungenschaft und deren Fragilität haben. Da gehört auch die politische Bildung stärker zum Selbstbewusstsein. In der Schweiz fühlen wir uns wegen der Stabilität sehr sicher. Aber nur, weil man in der Schweiz geboren wurde, ist man nicht politisch besser gebildet.

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Warum herrscht in der Schweiz weniger Drive, was die politische Bildung angeht?

Die Demokratie ist sehr stark Teil der Identität. Deshalb feiern wir momentan ja auch 175 Jahre Bundesverfassung und glauben, alle würden das Gleiche unter diesem Begriff verstehen. Erklären lässt sich das vielleicht so: Die Schweizer Verfassung wurde zwar 1999 totalrevidiert, das war kein Bruch, wie ihn andere Länder zum Beispiel nach einem diktatorischen Regime erlebt haben. Man hat das Gefühl, die Demokratie sei stabil, weil sie lange stabil gewesen ist. Dies kann zu einem mangelnden Bewusstsein darüber führen, wie viel Unsicherheit in der Welt herrscht, die vor allem junge Leute heute stark wahrnehmen.

Die politische Grundbildung ist im neuen Lehrplan in der Schweiz verankert – Schüler:innen sollen auf Sekundarstufe die Demokratie erklären und mit anderen Systemen vergleichen können. Reicht dies aus?

Dieser Punkt deckt nicht alle Aspekte der politischen Bildung ab, er beinhaltet nur den Wissensaspekt. In meinem Verständnis braucht es viel mehr. Es geht auch um Debattierfähigkeiten oder Lesefähigkeiten. Kompetenzen, die nicht ausschliesslich zur politischen Bildung gehören, aber sehr wichtig sind. Es lohnt sich, diese Fähigkeiten explizit unter der Demokratielinse zu betrachten. Dabei geht es nicht nur darum, wie ich mein Argument möglichst gut vertreten kann, sondern auch, dies respektvoll zu tun und andere Meinungen zu verstehen.

Wir haben Sabine Jenni in einem Café zum Interview getroffen.
Sabine Jenni ist Co-Gründerin und Geschäftsleiterin des Vereins Demokrative, der sich mit nationalen und internationalen Projekten für die politische Bildung einsetzt. Vera Leysinger/SWI swissinfo.ch

Bleiben wir noch bei der Schule. Worauf muss bei der politischen Bildung von jungen Menschen geachtet werden?

Ich muss klar festhalten, ich bin keine Lehrerin. Die Thematik ist komplex und es ist die Aufgabe einer Lehrperson, diese Komplexität zu reduzieren. Ich beobachte, dass politische Bildung immer noch häufig auf Institutionen reduziert wird, auf ganz konkrete Regeln, Abstimmungsregeln im Bundeshaus beispielsweise.

Das ist unheimlich weit weg von einer jungen Person. In der Oberstufe sind die meisten Schüler:innen noch nicht stimmberechtigt. Und in weiterführenden Schulen reden wir vielleicht mit vielen Schüler:innen, die keinen Schweizer Pass haben. Wenn wir nur über politische Eigenheiten reden, die so weit entfernt von ihrer Lebensrealität sind, dann verkaufen wir die Politik als etwas, das nichts mit ihnen zu tun hat. Dabei gibt es viele Orte oder Beispiele, wo Jugendliche Politik und Demokratie im Alltag erleben.

Wo denn zum Beispiel?

Etwa wenn in der Schule Partizipation und Mitentscheidung gefördert wird. Oder wenn analysiert wird, wie und warum im Quartier XY ein Tempolimit von 30 Stundenkilometer eingeführt wird.

Die politische Schulbildung sollte auch genutzt werden, um bei schwierigen Themen Orientierung zu schaffen. Ich denke an die Klimakrise, die Pandemie, den russischen Angriff auf die Ukraine. Dies kann einerseits eine Herausforderung für Lehrpersonen sein, ist aber gleichzeitig eine Chance. Wenn Jugendliche sich betroffen fühlen, sind sie auch bereit, sich politisch zu beteiligen.

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Viele Angebote zur politischen Bildung, auch die Workshops Ihres Vereins, richten sich an Jugendliche und junge Erwachsene. Aber ist man je ausgelernt, was die politische Bildung angeht?

Überhaupt nicht. Sehr schön, dass Sie das ansprechen. In unseren Vereinsstatuten steht, dass wir politische Bildung für möglichst breite Bevölkerungsschichten fördern wollen. Dass wir vor allem junge Leute ansprechen, hat praktische Gründe.

Junge Leute gehen zur Schule, nicht nur für die obligatorische Schulzeit, sondern auch in die Berufsschule oder ins Gymnasium, und sind über diese Institutionen verhältnismässig einfach erreichbar. Wir möchten uns aber schrittweise auch ausserhalb von Schulen organisieren. Politische Bildung gehört für mich ebenfalls in die Erwachsenenbildung.

Wie können Personen erreicht werden, die nicht mehr zur Schule gehen und keinen Zugang zu politischen Themen haben?

Das ist die grosse Frage und bereits schwierig, wenn wir junge Menschen über existierende Organisationen wie Quartiervereine zu erreichen versuchen. Diese sind sehr niederschwellig, die Jungen können kommen und gehen, wann sie wollen. Da passt unser existierendes Angebot von beispielsweise einem Workshop für zehn Personen à zwei Stunden nicht rein.

Es braucht also einen Zugang über Institutionen.

Ja, wahrscheinlich. Es gibt einige Angebote, hier in Bern bspw. das Polit-Forum, das Diskussionsveranstaltungen organisiert und sich eher an ein erwachsenes Publikum richtet. Aber wer hat am Abend noch Zeit?

Welche Rolle kommt Medien in der politischen Bildung zu? Ich denke jetzt an klassische Medien, aber auch an Social Media wie TikTok-Videos.

In der Schweiz gibt es beispielsweise mit Easyvote oder der Go Vote-Kampagne ganz interessante Angebote, die Apps und Social Media für die Partizipationsförderung nutzen. Unsere Angebote haben einen anderen Schwerpunkt, wir fördern eine tiefere Auseinandersetzung – auch mit sich selbst. Wenn ein Video auf den sozialen Medien nur zehn Sekunden geht, ist die thematische Auseinandersetzung weniger tief. In unseren Workshops wird auch mal eine halbe Stunde über etwas diskutiert und wir üben, auszuhalten, dass es sehr unterschiedliche Meinungen gibt.

Wir haben uns hier am Bahnhof in Bern in einem Café getroffen. Mit Blick auf den Tag der Demokratie am 15. September, was bedeutet dieser Ort für Sie?

Bei der politischen Bildung ist das Bundeshaus natürlich wichtig, aber der Bahnhof passt besser zu unserem Schwerpunkt: Hier hat es so viele verschiedene Menschen, man ist eng zusammen, sitzt im öffentlichen Verkehr neben anderen Menschen. Für mich hat das viel mit der Demokratie zu tun.

Der internationale Tag der Demokratie

Der 15. September wurde 2007 von den Vereinten Nationen (UNO) zum internationalen Tag der Demokratie erklärt. Um die Grundsätze der Demokratie zu fördern, finden jedes Jahr verschiedene Aktionen statt – auch in der Schweiz. Unter anderen ist der Verein Demokrative mit Demokratie-Spielen auf dem Bahnhofplatz in Bern anzutreffen.

 Editiert von Mark Livingston

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