Pressefreiheit wird zum Testfall für die Schweizer Neutralität
Nach der Ermordung des prominenten saudi-arabischen Kolumnisten Jamal Khashoggi im vergangenen Jahr weigerte sich die Schweiz, eine Erklärung zu unterzeichnen, die den Mord verurteilt und eine lückenlose Untersuchung fordert. Journalisten und NGOs fragen sich seither, wie ernst es der Bundesrat meint mit seinen Bemühungen, für Pressefreiheit einzutreten.
Rund ein Jahr ist seit dem Mord am Journalisten Jamal Khashoggi in der saudi-arabischen Botschaft in Istanbul vergangen. Saudi-Arabien ist seither von vielen Seiten scharf verurteilt worden. Im März dieses Jahres unterzeichneten in Genf 36 Länder – darunter alle EU-Staaten – eine gemeinsame Erklärung, in der sie unter anderem forderten, dass der Mord an Khashoggi gründlich aufgeklärt wird und Saudi-Arabien die Untersuchung unterstützt. Doch die Schweiz blieb aussen vor: Sie hat die Erklärung nicht unterzeichnet.
«Reporter ohne Grenzen verurteilte diese Entscheidung», sagt Denis Masmejan, Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen (ROG) Schweiz. «Die Schweiz ist traditionell ein Land, das die Menschenrechte und insbesondere die Meinungs- und Pressefreiheit verteidigt.»
Der Fall spiegelt den Spagat der Schweizer Regierung wider, die Werte des Landes mit den wirtschaftlichen Interessen und seiner Tradition der Neutralität in Einklang zu bringen. Offensichtlich zieht Bern private Zurechtweisungen immer noch öffentlichem Druck vor. Aber neue Initiativen zum Schutz der Pressefreiheit könnten die Alpennation dazu bewegen, international eine sichtbarere Rolle einzunehmen.
Kurz nach dem Mord an Khashoggi gab die Schweiz am Pariser Friedensforum gemeinsam mit anderen Ländern eine Erklärung ab, in der sie ihre Besorgnis über die Bedrohung der Pressefreiheit zum Ausdruck brachte und zugleich die Absicht bekundete, an einem durch Reporter ohne Grenzen inspirierten Projekt namens «Partnerschaft für Information und Demokratie»Externer Link mitzumachen. Und erst vor wenigen Wochen unterzeichnete die Schweiz ein von Kanada und Grossbritannien initiierten «Versprechen» zum Schutz der MedienfreiheitExterner Link (Global Pledge on Media Freedom).
Das Versprechen, das auf der ersten globalen Konferenz für Medienfreiheit in London im Juli vorgestellt wurde, «soll die anhaltenden Verstösse gegen die Medienfreiheit auf der ganzen Welt bekämpfen, indem Länder zu einer Zusammenarbeit verpflichtet werden», erklärt Kristen Ambler, politische Beraterin in der kanadischen Botschaft in Bern.
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Etwa 26 Staaten haben sich der Vereinbarung angeschlossen. Eine aktualisierte Liste der Unterzeichner solle noch im September am Rande der nächsten Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) in New York veröffentlicht werden, so Ambler.
«Ähnliche Verbrechen werden wieder geschehen»
Kritiker fragen sich aber, wie wirksam solche Vereinbarungen und Beschlüsse letztendlich sind. Das Ausmass der weltweiten Reaktionen auf Fälle wie Khashoggis war immens, aber was nützt das? Dieser Mord, aber auch andere Fälle von Gewalt gegen Journalisten und Verstösse gegen die Medienfreiheit, stellen die wahre Bereitschaft und Fähigkeit der Staatengemeinde, für Journalisten einzutreten, auf die Probe.
«Auf den Tod des saudischen Journalisten gab es international kaum wirksame Reaktionen», schrieb Agnès Callamard, UNO-Sonderberichterstatterin für aussergerichtliche Hinrichtungen, in der Washington Post. Sanktionen von einigen Ländern gegen Personen, die mit dem Mord in Zusammenhang stehen, «gehen nicht auf die Verantwortung der saudischen Führung ein».
«Ohne internationale Massnahmen werden vergleichbare Verbrechen immer wieder geschehen», fügte Callamard hinzu und forderte, dass der UNO-Generalsekretär eine Untersuchung einleiten solle, wie dies zuvor bei politischen Attentaten geschehen war.
Callamard ist auch der Ansicht, dass die UNO einen unabhängigen Mechanismus für «strafrechtliche Ermittlungen gegen gezielte Morde an Journalisten und Menschenrechtsverfechtern» einrichten sollten.
Während der Unterzeichnung des «Global Pledge on Media Freedom» in London forderte eine Gruppe von NichtregierungsorganisationenExterner Link (NGOs), darunter Reporter ohne Grenzen, die Länder auf, Callamards Vorschlag für einen solchen Mechanismus umzusetzen und zu finanzieren. Nur durch griffige Massnahmen, so ihr Tenor, könnten Staaten zur Verantwortung gezogen und nachweisliche Fortschritte erzielt werden.
Bilaterale Rügen
Auf die Frage, wie die Schweiz auf den Mord an Khashoggi und den Mord an der Journalistin Daphne Caruana Galizia in Malta im Jahr 2017 reagiert habe, sagt Pierre-Alain Eltschinger, Sprecher des Schweizer Aussendepartements (EDA), dass die Alpennation in Einzelfällen «das Problem auf bilaterale Ebene anspricht». In den «besorgniserregendesten Fällen» würde sie auch auf multilateraler Ebene äussern. Er fügt hinzu, dass Schweizer Beamte den Fall des saudi-arabischen Dissidenten «mehrfach auf bilateraler Ebene sowie beim Menschenrechtsrat in Genf» zur Sprache gebracht hätten.
«Konkrete Massnahmen liegen im Interesse der Schweiz», sagt Eltschinger weiter und verweist auf die Unterzeichnung der Global Pledge for Media Freedom sowie auf vergleichbare Initiativen, die es Staaten ermögliche, ihre internationalen Bemühungen zu koordinieren.
Die Schweiz engagiere sich durch verschiedene andere Programme zur Pressefreiheit, so Eltschinger. Etwa in einer Partnerschaft mit der Unesco zur Stärkung der Meinungsfreiheit im französischsprachigen Afrika oder in einem Projekt der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zur Verbesserung der Online-Sicherheit von Journalistinnen.
Grundlage für die Demokratie
Neben der Wahrung der Presserechte setzen sich NGOs wie Reporter ohne Grenzen auch für die Wahrung eines «Kommunikations- und Informationsraums ein, der die Ausübung von Rechten und Mitsprache ermöglicht». So heisst es in einer ErklärungExterner Link der Organisation zu ihrer Initiative Partnerschaft für Information und Demokratie. Aktuelle Bedrohungen sind nach Angaben der Verfasser die staatliche Kontrolle der Medien und sogenannte Online-Desinformationkampagnen.
Im vergangenen Monat erhielten ROG Unterstützung durch den G7-Gipfel. Der französische Präsident Emmanuel Macron stellte den übrigen Staats- und Regierungschefs beim Gipfel im französischen Biarritz die geplante Partnerschaft vor. Sie soll einen internationalen politischen Prozess in Gang setzen, der weltweite Standards für den Schutz unabhängiger und glaubwürdiger Informationen etabliert.
EDA-Sprecher Eltschinger sagt, dass derzeit die Möglichkeit eines Beitritts der Schweiz zu dieser Partnerschaft geprüft werde. Sie soll noch in diesem Monat am Rande der UNO-Generalversammlung in New York unterzeichnet werden.
Bis zur Präsentation des Inhalts der Initiative bleibt unklar, was es tatsächlich mit konkreten Verpflichtungen auf sich hat.
Für ROG-Generalsekretär Masmejan besteht kein Zweifel, wie die Entscheidung der Schweiz aussehen sollte. «Dieser Text, der rechtlich nicht verbindlich ist, bildet die Grundlage dafür, dass die Bürger mit kostenlosen und zuverlässigen Informationen versorgt werden. Das ist die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie», schreibt er in einer E-Mail.
Podiumsdiskussion zu Fake News in Bern
Anlässlich des Internationalen Tags der Demokratie am 15. September veranstaltet die kanadische Botschaft in Bern zusammen mit der britischen Botschaft und swissinfo.ch eine Podiumsdiskussion zum Thema Fake News und deren Auswirkungen auf den demokratischen Prozess.
Das Panel findet am 12. September statt und besteht aus den Experten Samantha Bradshaw, Forscherin am Oxford Internet Institute, und Fabrizio Gilardi, Professor für Politikanalyse an der Universität Zürich. Die Diskussion wird von swissinfo.ch-Journalistin Geraldine Wong Sak Hoi moderiert. Der Anlass ist öffentlich, der Eintritt freiExterner Link.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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