«Der Kampf ist nie gewonnen»
Seit 1942 gilt Homosexualität in der Schweiz nicht mehr als Verbrechen. Doch 75 Jahre später gibt es immer noch zahlreiche Diskriminierungen, vor allem am Arbeitsplatz. Es brauche Sensibilisierung, um ein offeneres Berufsumfeld zu schaffen, fordert Ferdinando Miranda, Gleichstellungsbeauftragter von der Universität Genf.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Homosexualität seit 1990 nicht mehr als psychische Krankheit ein. Hingegen erscheint Transsexualität immer noch in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO.
Das zeigt exemplarisch die aktuelle Situation von sexuellen Minderheiten: Auch in der Schweiz wurden soziale und rechtliche Fortschritte für Homosexuelle erreicht, während Transsexuelle und Intersexuelle immer noch besonders verletzlich für Diskriminierungen sind.
«Die Transphobie ist sehr viel stärker ausgeprägt als die Homophobie. Die Schweiz hat in diesem Bereich keine Fortschritte gemacht», sagt Ferdinando Miranda, Beauftragter für Gender- und LSBTTIQ-Projekte (LSBTTIQ steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, transsexuelle, intersexuelle und queere Menschen) an der Universität Genf.
Miranda zählt namentlich die langen Verfahren zur Änderung des Personenstands auf, aber auch subtilere Diskriminierungen: «Der Kampf zur Entpathologisierung von Transidentität muss noch geführt werden», betont er.
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Witze und Stereotypen bei der Arbeit
Direkte Homophobie ist in der Schweiz eher selten. Indirekte Diskriminierungen sind verbreiteter und geschehen häufig am Arbeitsplatz. Laut einer nationalen Studie der Universität Genf aus dem Jahr 2014 mit dem Titel «Etre LGBT au travailExterner Link» (lesbisch, schwul, bi- oder transsexuell sein am Arbeitsplatz) erleiden 70% der lesbischen, schwulen, bi- oder transsexuellen Personen diverse Formen von Diskriminierung in ihrem beruflichen Umfeld.
«Die negativen Kommentare beziehen sich häufig auf die Art der Kleidung oder das Verhalten einer Person. Diskriminierung kann auch in Form einer Serie schlechter Witze bestehen», präzisiert Miranda. Diese Faktoren führen zu einem unfreundlichen Klima und bewegen etwa 60% der homosexuellen Personen dazu, sich nicht offen zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen.
Lücken im Gesetz
Auf Gesetzesebene hinkt die Schweiz im Vergleich zu den Nachbarländern hinterher. Homosexuelle Paare können zwar eine eingetragene Partnerschaft eingehen, nicht aber heiraten, was zu einer Diskriminierung von Regenbogenfamilien führt. «Gleichgeschlechtliche Paare werden von der Adoption ausgeschlossen, auch wenn es sich um das leibliche Kind des einen Partners handelt», erklärt Miranda.
Der Experte weist zudem darauf hin, dass das Schweizer Recht eine Bestrafung von Homophobie oder Transphobie vorsehen sollte. «Man sollte die spezifischen Formen von Diskriminierung benennen, damit sie als solche anerkannt werden», meint er. Eine hängige parlamentarische InitiativeExterner Link sieht vor, Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen (Art. 261bis, Antirassismusstrafnorm).
Eine offenere Sprache?
Das Gesetz allein reicht allerdings nicht, man muss auch sensibilisieren, bilden und informieren, und zwar an Schulen, Unternehmen und Institutionen. «Das geschieht unter anderem durch die Entwicklung einer integrierenden Sprache, die auch offene Fragen zulässt. Warum fragt man Frauen systematisch, ob sie einen Ehemann haben, und Männer, ob sie eine Ehefrau haben?», fragt Miranda, der in der Schweiz eine Verspätung in der Repräsentierung verschiedener Familienmodelle feststellt. In der Tat sind homosexuelle Paare in der Werbung eher selten.
Wenn man an die Ermordung von Homosexuellen in Tschetschenien denkt, oder an Todesurteile und gewalttätige Unterdrückung in zahlreichen Ländern, an das Wiederaufleben ultrakonservativer Bewegungen…. Muss man sich über das internationale Klima Sorgen machen? «Nach jedem wichtigen Fortschritt gibt es Rückschritte und Gegenreaktionen. Deshalb wird der Kampf für Minderheiten nie gewonnen sein. Man muss immer achtsam bleiben», antwortet Miranda.
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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