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«In der Schweiz würde man nicht einen Bruchteil dessen akzeptieren, was in Eritrea passiert»

Trotz vieler Versprechungen hat die Regierung in Eritrea ihre Politik der Einschüchterung nicht geändert. Willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen seien nach wie vor an der Tagesordnung. Diese Auffassung vertritt der eritreische Priester Mussie Zerai, der sich unermüdlich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Er spricht von einem "politischen Rassismus" in Bezug auf Personen, welche die Ansicht vertreten, dass bestimmte Völker nicht die vollständigen demokratischen Rechte benötigten. 

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swissinfo.ch: In der Schweiz, aber nicht nur hier, ist die Auffassung verbreitet, dass die Situation in Eritrea gar nicht so gravierend sei wie häufig behauptet. Was meinen Sie?

Mussie Zerai: Die UN-Menschenrechtskommission hat einen 500 Seiten starken Bericht über die Situation in Eritrea erstellt. Dort spricht man explizit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Dinge geschehen tatsächlich, es sind keine Erfindungen.

Wer die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Eritrea herunterspielt, misst mit zweierlei Mass. Wie viele Journalisten in der Schweiz befinden sich im Gefängnis, weil sie die Schweizer Regierung kritisiert haben? Wie viele Politiker wurden verhaftet, weil sie mehr Demokratie gefordert haben? Und wie viele Menschen sind versklavt?

Wenn in der Schweiz und in Europa auch nur ein Prozent der Dinge geschähen, die in Eritrea an der Tagesordnung sind, würde dies niemand tolerieren. Ich kann nicht nachvollziehen, dass einige Leute der Meinung sind, die Situation in Eritrea sei gar nicht so schlimm. Im Prinzip behaupten diese, dass gewisse Länder durchaus mit weniger Rechten und weniger Demokratie auskommen können. Das ist politischer Rassismus.

swissinfo.ch: In einem am 14.Oktober 2016 publizierten Bericht spricht die Schweizer Regierung von Zeichen der Öffnung in Eritrea…

Mussie Zerrai ist ein eritreischer römisch-katholischer Priester. Er wurde 1975 als fünftes von acht Geschwistern im seinerzeit von Äthiopien besetzten Eritrea geboren. Sein Vater flüchtete 1979 nach einer Inhaftierung ohne seine Familie nach Italien, seine Mutter starb 1982.

Schon im Alter von 14 Jahren entschied sich Zerai, Priester zu werden. Seit 1992 lebte er in Rom und trat im Jahr 2000 dem Orden der Scalabrinianer bei. Seit 2011 wirkt er in Erlinsbach (Kanton Solothurn), von wo aus er die Seelsorge für in der Schweiz lebende katholische Eritreer betreibt.

Zerai wurde bekannt durch seine Unterstützung von auf dem Mittelmeer gestrandeten Flüchtlingen. Für sein Engagement erhielt Zerai den Menschenrechtspreis von Pro Asyl.

M.Z.:  Die eritreische Regierung hat in den letzten 15 Jahren viel versprochen, aber kein Versprechen gehalten. Immer wenn der internationale Druck zunimmt, wird ein kleines Zugeständnis gemacht. Nun gab es tatsächlich einige Zeichen der Öffnung im Bereich der Wirtschaft, doch in Bezug auf die demokratischen Rechte gibt es keinerlei Fortschritt. Ganz im Gegenteil! Die Forderung der EU nach einer Verkürzung der Militärdienstzeit blieb unerfüllt. Das Regime lässt weiterhin Razzien durchführen: Seit Jahresbeginn wurden schon mehrere Künstler verhaftet, nur weil sie ihre Meinung gesagt haben. Sie befinden sich in Haft, ohne einen Anspruch auf einen Prozess, weil es in Eritrea kein funktionierendes Justizsystem gibt. Es gibt Personen, die vor 20 Jahren verhaftet wurden und seither verschwunden sind. Man weiss nichts mehr von ihnen. Sie werden «desaparecidos» genannt, so wie unter Pinochet in Chile.

swissinfo.ch: Gemäss der Schweizer Regierung könnten auch minderjährige Asylsuchende, die vor ihrer Rekrutierung geflüchtet sind, sowie Personen, die ihren Militärdienst schon geleistet haben, eigentlich nach Eritrea zurückgeschickt werden. Was halten Sie davon?

M.Z.: Zuerst einmal ist festzuhalten, dass in Eritrea alle Männer bis zum Alter von 50 Jahren, Frauen bis zum Alter von 40 Jahren, der Militärdienstpflicht unterstehen. Die Asylsuchenden in der Schweiz sind im Durchschnitt 30 Jahre alt. Wer minderjährige Asylsuchende rückschaffen will, muss wissen, dass sie de facto dem Regime ausgeliefert werden.

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Wie kann man überhaupt nur in Erwägung ziehen, Menschen in ein Unrechts-Land zurückzuschicken? Der Respekt für internationales Recht gilt doch für alle, ganz unabhängig von den politischen Interessen.

Ohne echte Beweise für eine Öffnung und einen demokratischen Fortschritt ist es für mich verfrüht, von Rücküberstellungen zu sprechen. Das ist reiner politischer Opportunismus.

swissinfo.ch: Die Schweiz erwägt, wieder finanzielle Entwicklungshilfe in Eritrea zu leisten, nachdem sie sich 2006 von dem Land verabschiedet hatte. Könnte dies der richtige Weg sein, um das Regime zu einer Öffnung zu bewegen und jungen Menschen zu helfen, in ihrer Heimat zu bleiben?

M.Z.: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Denn es besteht die Gefahr, ein totalitäres Regime zu legitimieren, wenn diese Gelder sozusagen ohne Kontrolle und Gegenleistung vergeben werden. Wenn umgekehrt die Schweiz mit den Geldern zugleich echte Veränderungen verlangt, könnte dadurch möglicherweise ein Beitrag zu einer Öffnung geleistet werden.

Meiner Meinung nach sollte die Schweiz zuerst einmal einen ungehinderten Zugang zu allen Gefängnissen verlangen. Seit Jahren fordert das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), die Gefängnisse besuchen zu können – ohne Erfolg. Das wäre ein wichtiges Signal von Seiten des Regimes in Eritrea.

Eritrea: Die Meinungen gehen auseinander

Im Juni 2016 prangerte die UN-Untersuchungskommission für Menschenrechte in Eritrea in einem Bericht «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» an. Zugleich wurde gefordert, das eritreische Regime vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen. Die Kommissionsmitglieder konnten selbst nicht ins Land reisen. Ihre Schlussfolgerungen basieren auf Aussagen und Berichten von Flüchtlingen. Dies hat zu einiger Kritik geführt.

Laut einem EU-Bericht sind die Anschuldigungen der UNO übertrieben. Die Glaubwürdigkeit der Aussagen von Flüchtlingen wird angezweifelt. «Sie könnten ein Interesse an solchen Aussagen haben, um ihren eigenen Status als Flüchtling zu rechtfertigen», heisst es in dem Bericht, der von der Schweizerischen Nachrichtenagentur (sda) übernommen wurde.

Wenn die Einschätzungen zur Situation in Eritrea weit auseinander gehen, liegt es auch daran, dass kaum unabhängige Informationen über das Land verfügbar sind. Nur wenige Journalisten konnten das Land besuchen. Und diese Besuche finden unter einer strikten Kontrolle der Regierung statt.

Auch in der Schweiz wird über die Situation Eritreas heftig debattiert. Im Jahr 2016 hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) entschieden, einige Kategorien von eritreischen Flüchtlingen nicht mehr als Asylsuchende anzuerkennen. Nach Auffassung des SEM laufen diese Personen keine Gefahr, bei einer Rückkehr in ihr Land bestraft zu werden. Zur Stützung dieser Behauptung berufen sich die Schweizer Behörden auf «besonders ausgewählte Quellen».

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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