Welche Antworten erfordern die Anschläge von Paris?
Eine Reaktion auf militärischem Gebiet allein werde nicht ausreichen, um den islamistischen Terroristen des IS das Handwerk zu legen: Dies ist der Tenor in den Schweizer Zeitungen nach den blutigen Anschlägen von Freitagabend in Paris, die mindestens 129 Todesopfer gefordert haben. Der Kampf werde lange dauern und komplexe Massnahmen erfordern.
Eine Antwort erfolgte in der Nacht auf Montag, als die französische Luftwaffe einen Kommandoposten und ein Ausbildungslager in Rakka bombardierte, der «Hauptstadt» des Islamischen Staates. Der IS hatte die Urheberschaft der Anschläge von Paris für sich reklamiert.
Nicht alle, aber die meisten Schweizer Zeitungen setzen Fragezeichen hinter die Wirksamkeit militärischer Aktionen. «Der Feind ist und bleibt der IS. Die Luftschläge der Koalition, der Frankreich angehört, werden nicht ausreichen, um ihn aus Syrien und dem Irak zu vertreiben. Nur eine politische Lösung, die zum Abzug von Baschar al-Assad von seiner Machtposition in Damaskus führt, erlaubt, das Übel mit der Wurzel auszureissen», schreibt La Liberté aus Freiburg. Dabei aber dürfe Feind IS nicht mit dem Islam verwechselt werden. «Auch wenn potenzielle Terroristen versuchen, sich unter die Migranten zu mischen, rechtfertigt das nicht, syrischen Flüchtlingen das Asyl zu verweigern, wie das einige Länder Osteuropas verlangen», so La Liberté.
«Zwei Tage nach dem Horror, den der Terror in Frankreich gesät hat, ist es absolut notwendig, ruhig Blut zu bewahren, wie das François Hollande gefordert hatte, «, schreibt Le Temps aus Genf. «Die Intensivierung der Luftangriffe wird nicht genügen. Es wird schwierig werden, den Terror zu stoppen. Der Sieg gegen Terrorismus ist ein langer Kampf. Dieser kann nicht verordnet werden.»
15 Jahre militärische Einsätze in Afghanistan, Irak, Libyen und zuletzt in Syrien zeigten, dass Bomben zu nichts anderem führten als zu seiner Eskalation ohne Ende, schreibt 24 heures. «Es ist ein langwieriger Kampf auf mehreren Ebenen nötig. Kompromisslose Zurückweisung des extremistischen Diskurses und harte Zerschlagung radikaler Kreise sind unausweichlich», so die Zeitung aus Lausanne.
Grenzkontrollen
Der Schweizer Verteidigungsminister Ueli Maurer hat sich nach den Anschlägen in Paris für stärkere Kontrollen an der Grenze ausgesprochen. «Jetzt ist die Massnahme, wieder Grenzkontrollen einzuführen, notwendig», sagte er in Interviews mit mehreren Sonntagszeitungen. «Wir dürfen uns aber keine Illusionen machen, wir haben so viele Grenzübergänge, eine hundertprozentige Kontrolle ist nicht möglich. Aber es wäre ein deutliches Signal.»
Anschläge in der Schweiz könnten aber «nicht generell und für immer» verhindert werden, sagte er weiter. Dank Nachrichtendienst, Polizei und Datenaustausch seien aber immerhin schon «einige Anschläge verhindert» worden.
Skepsis ob des Populismus
«Was aber tun mit den beteiligten Menschen? Sie ins Gefängnis werfen? Und so menschliche Bomben mit verzögerter Zündung produzieren? Es dauerte nur Stunden, ein paar tausend Soldaten auf die Strassen von Paris zu schicken. Aber es wird die nachhaltige und kohärente Arbeit einer ganzen Generation brauchen, um die verlorene Zeit aufzuholen, sprich die in den Banlieues verlorenen Kinder der Republik zu bilden, ihnen Hoffnung zu geben und sie zu integrieren. Es ist unsicher, ob die politische Agenda, genährt von Populismus und simpel gestrickten Lösungen, über diese Zeit und die Mittel verfügt.»
Mit militärischen Mitteln sei die Vernichtung des IS nicht zu erreichen, schreibt die Aargauer Zeitung, lägen doch die Wurzeln des Terrors in der islamischen Welt im Zusammenbruch staatlicher Strukturen. «Syrien, Libyen und Jemen sind heute ‹failed states›, gescheiterte Staaten, in denen der Islamismus gedeiht. Namentlich im Irak, in Libyen, aber auch in Afghanistan sind die militärischen Interventionen des Westens dafür mitverantwortlich.»
«Die Kriegsrhetorik ist verfehlt», schreibt der Tages-Anzeiger. «Der Terrorismus des IS ist in Westeuropa kein militärisches, sondern ein politisches Problem. Der IS wird seine Ziele nicht erreichen, wenn wir besonnen bleiben.» Trotzdem: «Zivile Ziele werden angreifbar bleiben. Das ist traurig und mit unendlichem Leid und Unverständnis verbunden. Aber es ist tröstlich zu wissen, dass es keine radikale politische Organisation und kein Einzeltäter je geschafft haben, mit solchen Aktionen ihre politische Basis zu verbreitern», schreibt der Tagi.
Für den Berner Bund ist klar, dass die Massnahmen auch militärische Optionen umfassen müssten. «Mehr Polizei und Geheimdienst allein werden nicht reichen.» Gegen neue Sicherheitsmassnahmen spreche nichts. «Ebenso wichtig wäre es, den Krieg in Syrien zu stoppen», so der Bund. «Falls nun auch in anderen Städten wahllos, aber koordiniert Menschen in Restaurants, Konzertbesucher und Flaneure getötet werden, könnte der 13. November 2015 im Rückblick plötzlich als Tag dastehen, der Europa verändert hat.»
Brandrede gegen «schändliche Kapitulation»
Von einem solchen Wandel will die Südostschweiz aus Graubünden rein gar nichts wissen: «Wenn dies aber die Reaktion einer europäischen – oder westlichen – ‹Wertegemeinschaft› auf die Bluttaten einer Handvoll Terroristen ist, dann ist es eine schwache, ja eine feige Reaktion. Eine Reaktion, die einen erschreckenden Mangel an Selbstbewusstsein offenlegt. Und obendrein einen erschreckenden Mangel an Bewusstsein dafür, was jede und jeder Einzelne von uns unserer freiheitlichen Ordnung zu verdanken hat. … Im Namen der Sicherheit nun Rechte infrage zu stellen und Werte über Bord zu werfen, wäre eine schändliche Kapitulation. Eine Kapitulation letztlich vor Barbaren.»
Erhöhte Alarmbereitschaft
Die Anschläge in Paris hatten in der Schweiz Bestürzung ausgelöst. Die Fahnen auf dem Bundeshaus wehen auf Halbmast. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga verurteilte am Samstag den Terror aufs Schärfste. Die Sicherheitskräfte verstärkten ihre Wachsamkeit und ihre Präsenz.
«Ich bin schockiert, traurig und wütend», sagte Sommaruga vor den Medien in Bern. Die Attacken hätten «Paris, Europa und die ganze Welt erschüttert». Die Angriffe richteten sich gegen die Grundwerte der Gesellschaft. Die Schweiz sei in Gedanken bei Frankreich.
Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle sagte, die Zusammenarbeit mit den französischen Behörden sei eng. «Wir sind auch in Paris vor Ort.» Die Schweizer Sicherheitsbehörden seien wachsam und würden die Situation laufend neu beurteilen. Konkret seien die Grenzkontrollen an den Übergängen zu Frankreich punktuell verstärkt worden.
«Neue Dimension des Terrors», titelt die Neue Zürcher Zeitung. Die Verstärkung der inneren Sicherheit müsse aber mit einer Intensivierung des militärischen Kampfes gegen die Terroristen einher gehen. «Europa sollte ferner den Kampf gegen die Urheber des Terrors in deren Länder tragen und sich mit aller Entschlossenheit im Nahen Osten militärisch engagieren, um den IS zu vernichten. Die enge Verzahnung von Polizei, Nachrichtendiensten und Armee bringt in der Epoche des globalen Jihad die besten Resultate. Die Amerikaner haben so die Kaida zerschlagen.»
Auch für die Neue Luzerner Zeitung stehen die Zeichen nun klar auf Krieg: «Besiegen lässt sich das Islamische Kalifat nur, wenn seine dschihadistische Staatsbasis zerstört, sein mesopotamisches Herrschaftsgebiet erobert und sein Steinzeit-Islam ideologisch ausgetrocknet wird.» Spätestens seit der Mordnacht von Paris dürfte der zivilen Welt in Ost und West, in Orient und Okzident klar geworden sein, dass sie dieser Mixtur aus religiöser Verblendung, globalem Zivilisationshass und militärischer Präzision weitaus härter entgegentreten müsse als bisher.
Noch klarer präsentiert sich die Lage für die Basler Zeitung: «Die Schuldfrage ist obsolet geworden, die Zeit des Debattierens ebenso, weil jetzt Krieg herrscht, einer, bei dem die Opfer bewusst Zivilisten sind. Es ist ein Krieg, den Europa und die USA annehmen müssen, wenn wir und unsere Werte überleben sollen», heisst es. «Es ist Zeit, aus der Lethargie des Gutgläubigen, Schöngeredeten und Ängstlichen aufzuwachen. Das ‹Love, Peace and Happiness› der offenen Grenzen war hübsch und etwas Selbstverliebtes, auf lange Sicht gesehen ist es fatal.» Die Formulierungen der rechtsnationalen Zeitung lassen vermuten, dass dieser Krieg nicht nur in Syrien geführt werden müsse, sondern ebenso auch in den multikulturellen Gesellschaften Europas, also auch der Schweiz.
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