Nahost-Experten sind überrascht von Cassis› Aussagen zur UNRWA
Nach seiner Rückkehr aus Jordanien hat der Schweizer Aussenminister das UNO-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) als Hindernis für den Frieden bezeichnet: Ist Ignazio Cassis einfach ungeschickt oder prüft er die Möglichkeit einer Neuausrichtung der Schweizer Diplomatie im Nahen Osten? Einschätzungen von Experten.
Nach seiner Rückkehr von einem Besuch in Jordanien Anfang dieser Woche äusserte sich Cassis am Donnerstag in mehreren deutschsprachigen Zeitungen in einem Interview. Zur Sackgasse im israelisch-palästinensischen Friedensprozess sagte der Aussenminister zunächst: «Solange die Araber nicht bereit sind, Israel das Existenzrecht einzuräumen, fühlt sich Israel in seiner Existenz bedroht und wird sich verteidigen.»
Der ehemalige Schweizer Diplomat im Nahen Osten, Yves Besson, zeigt sich erstaunt: «Wie kann er so etwas sagen? Sowohl Jordanien als auch Ägypten haben ein Friedensabkommen mit Israel unterzeichnet. Und die arabischen Länder unterstützten einen Friedensplan, den Saudi-Arabien vor rund 15 Jahren vorgeschlagen hatte. Dies sind nur einige Beispiele, die den Aussagen von Herrn Cassis widersprechen. Unser Aussenminister muss schlecht informiert sein.»
Stellungnahme des EDA
«Den Aussagen, die Herrn Bundesrat I. Cassis in der Aargauer Zeitung gemacht hat, hat das EDA nichts hinzuzufügen», schreibt das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Anfrage von swissinfo.ch.
Der Bundesrat habe am 21. Dezember 2016 beschlossen, das UNRWA-Budget für die Jahre 2017 bis 2020 weiter zu finanzieren. Diese Finanzierung sei nicht in Frage gestellt.
Das EDA stehe auf verschiedenen Ebenen in regelmässigem Kontakt mit der UNRWA. Während seiner Reise nach Jordanien habe Aussenminister Cassis mit UNRWA-Generalkommissar Pierre Krähenbühl gesprochen. Die Diskussionen seien «offen und konstruktiv» gewesen, es seien «verschiedene Themen von gemeinsamem Interesse» angesprochen worden.
Im gleichen Interview äusserte sich Cassis zur Frage der palästinensischen Flüchtlinge: «Die Flüchtlinge träumen davon, nach Palästina zurückzukehren. Mittlerweile gibt es weltweit nicht mehr 700’000 palästinensische Flüchtlinge (wie 1948, Anm. d. Red.), sondern 5 Millionen. Es ist nicht realistisch, dass dieser Traum für alle Wirklichkeit wird. Die UNRWA aber hält diese Hoffnung aufrecht. Für mich lautet die Frage: Ist die UNRWA Teil der Lösung oder Teil des Problems?»
Ungeschicktheit oder Absicht?
Auf Nachfragen des Journalisten sagt Cassis schliesslich: «Solange die Palästinenser in Flüchtlingslagern leben, wollen sie in ihre Heimat zurückkehren. Indem wir die UNRWA unterstützen, halten wir den Konflikt am Leben. Es ist eine perverse Logik, denn eigentlich wollen alle diesen Konflikt beenden.»
Auch diese Aussage sorgt bei Diplomat Besson für Erstaunen: Als ehemaliger UNRWA-Direktor empfindet er Cassis› Worte als besonders ungeschickt: «Heute ist die UNRWA das letzte Zeichen für das Interesse der internationalen Gemeinschaft an den Palästinensern und ihren Flüchtlingen. Ausserdem sind die Aussagen alles andere als neutral, diente dieses Argument doch Israel und den USA als Leitmotiv.»
Besson erinnerte daran, dass die Palästinenser während der in Oslo eingeleiteten Friedensverhandlungen nicht die effektive Rückkehr von Millionen von Palästinensern forderten, sondern eine Anerkennung der Verantwortung Israels gegenüber den 700’000 Palästinensern, die 1948 geflüchtet waren. «Herr Cassis schenkt diesen Menschen wenig Beachtung, die sich gerne auf ihre Herkunft und ihr Rückkehrrecht berufen möchten – auch wenn sie nicht davon Gebrauch machen werden», so Besson.
Das sieht Riccardo Bocco, Nahost-Experte am Graduate Institute in Genf, auch so: «Wir dürfen den Ursprung des arabisch-israelischen Konflikts von 1948 nicht mit der Lösung verwechseln, die für die palästinensischen Flüchtlinge gefunden wurde. Und die Situation der palästinensischen Flüchtlinge ist je nach Land, in dem sie sich befinden, sehr unterschiedlich. Wer berät Herrn Cassis?»
Eine Neuausrichtung?
Versucht der Schweizer Aussenminister mit diesen Aussagen die Schweizer Diplomatie neu auszurichten, indem er sie den Ansichten Israels und den USA annähert?
Um diese Frage zu beantworten ist es noch zu früh. Doch Bocco befürchtet, dass die ungeschickten Worte des Aussenministers das Vertrauen, das seine Vorgänger bei allen Konfliktparteien aufgebaut haben, untergraben. Auch dürfte es für die Schweiz schwieriger werden, die Rolle der Vermittlerin wahrzunehmen.
(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)
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