Israels Intervention und die Folgen im Nahen Osten
Die ersten Konsequenzen des israelischen Überfalls auf die Gaza-Hilfsgüterflotte zeigen sich langsam. Bisherige Verbündete Israels, wie die Türkei oder Ägypten, stärken nun eher die Achse Teheran-Damaskus, finden Schweizer Nahost-Experten.
Das Bild des israelischen Elite-Kommandos, das unter den pro-palästinensischen, mit Stöcken und Messern bewaffneten Passagieren ein Blutbad anrichtete, spiegelt die Sackgasse, in der sich Israel befindet angesichts der sich ständig verändernden Realitäten im Nahen Osten.
«Das regionale Gleichgewicht befindet sich in einer Veränderung, die sich wahrscheinlich nach dem Entern der humanitären Flotte noch beschleunigen wird», sagt Yves Besson, ehemaliger Schweizer Diplomat im Nahen Osten. Er teilt diese Analyse mit dem Forscher und Berater Pascal Crousaz, auch er ein Kenner der Region.
Ein neuer Machtfaktor
Nach dem blutigen Angriff auf die türkische Privatflotte intensiviert nun Ankara seine strategische Neupositionierung in Richtung Zentralasien und gegenüber seinen Nachbarn Syrien und Iran. So schwingt sich Ankara nun zu einem neuen Machtfaktor in der arabischen und muslimischen Welt auf.
«Israel hat einen langjährigen Verbündeten verloren», sagt Pascal Crousaz. Aber die Regierung sei sich offenbar nicht in vollem Umfang der Bedeutung dieses Verlustes bewusst. «Man denke nur an das Szenario eines israelischen Angriffs auf die iranischen Atomanlagen. Die Anflugroute würde über türkisches Gebiet führen.»
Crousaz und Besson sind sich weiter einig, dass die Razzia auf dem Meer auch die Beziehung zu einem weiteren regionalen Verbündeten Israels trüben werde: Ägypten. Das Land musste am Montag die Sperrung seiner Grenze zum Gazastreifen, die es gemeinsam mit Israel aufrecht erhält, mit der teilweisen Wiedereröffnung des Grenzübergangs Rafah aufheben.
«In den letzten Monaten herrschte zwischen Ägypten und der Hamas eine schlechte Stimmung, die zu einer strengeren Abschottung des Gazastreifens geführt hatte. Wenn die Wiederöffnung des Grenzübergangs Rafah in den nächsten Wochen aufrecht erhalten bliebe, wäre das eine signifikante Veränderung», so Pascal Crousaz.
Verwundbarere Verbündete
«Ägypten befindet sich in einer heiklen Phase, stehen doch 2011 Präsidentschaftswahlen an. Und es geht um die Nachfolge von Präsident Hosni Mubarak. Die ägyptische Regierung wird daher versucht sein, sich ein möglichst Anti-Israelisches Image zu geben.»
Laut Pascal Crousaz «schwächt dies auch diejenigen, die noch an eine Verhandlungslösung mit Israel glauben. Auch Mahmut Abas (der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde) und sein Premierminister hatten schon grosse Mühe, den Ärger und Frust der Palästinenser in Grenzen zu halten und den Ausbruch einer Intifada zu vermeiden.»
Auch der Westen ist nicht zufrieden. «Bis vor kurzem waren die Vereinigten Staaten und Europa der Ansicht, mit einer Unterstützung der Haltung Israels könne man das Land dazu bringen, Konzessionen zu machen für einen Friedensvertrag. Aber der Überfall vom Montag zeigt, dass dieser Ansatz nicht greift», sagt Yves Besson.
Und das Ganze bewegt sich in einem äusserst volatilen Rahmen: «Bei ihrem Bemühen, sich aus Irak zurückzuziehen und die Afghanistan-Frage zu regeln, kommt dieser neue Konflikt den Amerikanern sehr ungelegen.»
Friedensplan
Pascal de Crousaz glaubt dennoch, dass die Auswirkungen des israelischen Überfalls und die daraus resultierende Sackgasse könnten doch noch zu einer Lösung beitragen. «Nicht nur gemeinsam mit den Ländern, die in den Friedensprozess einbezogen sind (Russland, EU, und UNO), sondern auch mit den arabischen Verbündeten, könnten die USA – nach den Kongresswahlen – eine internationale Konferenz anregen, um über einen Friedensplan zu entscheiden, der seit der Clinton-Aera bekannt ist: Der Friedensplan der Arabischen Liga und das Genfer Abkommen.»
Das damals vorgelegte Konzept hatte einen schlechten Start. Es wurde zwar von Washington und der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstützt. Es ging um die Führung indirekter Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern. Diese wurden jedoch ausgesetzt, nachdem die israelische Regierung unter Benyamin Netanyahu mit dem Neubau jüdischer Siedlungen in besetzten Gebieten begonnen hatte.
Überholte Strategie
Was treibt Israel dazu, dass es seine eigenen Interessen auf lange Sicht so zu untergraben scheint? «Die israelische Regierung hat diese maritime Operation sicher schlecht vorbereitet und die Auswirkungen falsch eingeschätzt», sagt Pascal Crousaz.
«Aber in der Regierungskoalition gibt es Leute, die immer noch der Ansicht sind, Israel müsse weiterhin seine abschreckende Wirkung maximieren und dürfe nur auf seine Stärken vertrauen. Und das ohne auf Reaktionen aus dem Ausland zu achten. Diese Haltung geniesst in der aktuellen Regierung eine besondere Stellung.»
Für Yves Besson ist diese Haltung, eine der Grundlagen der israelischen Aussenpolitik seit 1948, mittlerweile veraltet.»Israel bleibt bei den Paradigmen, die in der Region während des Kalten Krieges bestens funktionierten.»
Ein weiterer Punkt ist die Unterstützung der Vereinigten Staaten in einer für sie strategisch wichtigen Region. Der letzte US-Präsident, der in diesen Begriffen dachte, war George W. Bush.»
Der Schweizer Ex-Diplomat de Crousaz ist anderer Meinung: «Heute kann die Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit des Staates Israel nicht auf der Anwendung massiver Gewalt ohne Rücksicht auf die Menschen und Medien basieren.»
Nicht ausser Acht lassen darf man auch das Rechtsempfinden in der Welt und die Stärkung der internationalen Justiz. «Der Einfall in den Libanon 2006, nach Gaza 2009, diese Intervention in internationalen Gewässern, ganz zu schweigen von der Blockade, sind Verstösse gegen das Kriegsrecht», sagt Besson.
«Es geht nicht an, das Gesetz zu ignorieren oder es einfach auf seine Weise zu interpretieren. Wer UNO-Resolutionen ignoriert, wird immer schlecht dastehen im öffentlichen Ansehen der Region und im Rest der Welt.»
Frédéric Burnand, Genf, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Etienne Strebel)
Die internationale Organisation Free Gaza will
mit Hilfsgütern die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens unterstützen.
Solidaritätsfahrten von Schiffen sollen auch
öffentlichkeitswirksam auf die Blockade des Gebiets durch Israel hinweisen.
An Bord der Flotte befinden sich neben Aktivisten immer auch Politiker und Prominente: Diesmal bestieg der schwedische
Erfolgsautor Henning Mankell ein Schiff.
Mehrfach wurden bisher Fahrten von «Solidaritätskonvois»
organisiert.
In August 2008 erreichten laut Free Gaza zwei Schiffe mit Hilfsgütern im Wert von 200’000 Euro von Griechenland über Zypern Gaza.
Im Oktober 2008 brachten 26 Aktivisten auf einem weiteren Schiff medizinische Hilfsgüter nach Gaza.
Während des Gaza-Krieges endete eine Solidaritätsfahrt Ende Dezember 2008 kurz vor der Küste.
Bei einem weiteren Versuch im Juni 2009 wurde ein Hilfsschiff vor Gaza abgefangen und in den israelischen Hafen Ashdod gezwungen.
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