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IV-Finanzierung: Parlament mischt die Karten neu

Die Invalidenversicherung hat seit Jahren Mühe, zusätzliche Finanzmittel zu finden. Keystone

Wegen der Finanzkrise verschiebt das Parlament die Einführung der zeitweiligen Erhöhung der Mehrwertsteuer zu Gunsten der Invalidenversicherung, über die am 27. September abgestimmt wird, um ein Jahr. Das könnte aber kontraproduktiv sein, sagt Politologe Pascal Sciarini.

Das Verfahren sorgte für eine Überraschung und teilweise auch für Aufregung.

Die Mehrwertsteuer-Erhöhung zugunsten der Invalidenversicherung (IV) wird um ein Jahr auf Anfang 2011 verschoben.

Nach dem Ständerat am Donnerstag hat am Freitag auch der Nationalrat die Änderung der Abstimmungsvorlage vom 27. September gutgeheissen.

Das rasche Vorgehen der Räte wurde allgemein als unschön bezeichnet. Es sei aber korrekt und vor allem nötig, lautete der Tenor.

Einzig die Schweizerische Volkspartei (SVP) fand das Verfahren skandalös und «einer Bananen-Republik würdig». Die wählerstärkste Partei der Schweiz versuchte, die Mehrwertsteuer-Erhöhung zu Fall zu bringen, scheiterte damit aber im Rat klar.

Die Partei betonte, bei der Verschiebung gehe es Parlament und Regierung lediglich darum, sich die Unterstützung der Wirtschaftsverbände für die Kampagne zur Abstimmung vom 27. September zu sichern.

Nach dem Parlamentsentscheid zeigten sich der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) und der Wirtschafts-Dachverband Economiesuisse, die der ursprünglichen Vorlage ihre Unterstützung wegen konjunkturpolitischer und technischer Überlegungen entzogen hatten, erfreut. Sie versprachen, sich nun für die Zusatzfinanzierung der IV einzusetzen.

Sieger- oder Verliererkarte?

«Dieser taktische Aufschub könnte für jene, die die Abstimmung gewinnen wollen, aber auch nach hinten hinaus gehen», sagt Pascal Sciarini, Direktor des politwissenschaftlichen Departements der Universität Genf.

Das späte und übereilte Manöver könne bei der Wählerschaft zu Verwirrung führen, «denn sie versteht nicht, warum ein Projekt gutgeheissen und dann in letzter Minute wieder abgeändert wird», so Sciarini.

«Die Gegner werden die Gelegenheit nutzen, um zu behaupten, dieser Aufschub sei der Beweis dafür, dass das Projekt problematisch und die Finanzierung riskant sei. Auch können sie argumentieren, es gebe keine Sicherheit für eine bessere wirtschaftliche Lage im Jahr 2011.»

Sciarini anerkennt aber, dass in Zeiten der Finanzkrise ohne die Unterstützung der Wirtschaftsverbände kaum eine Abstimmung zu diesem Thema gewonnen werden kann. In der direkten Demokratie «werden die Chancen für ein Projekt in einer Koalition viel besser», präzisiert der Genfer Professor.

In diesem Fall nun ist die Befürworterseite viel grösser geworden. Doch Stimmempfehlungen allein reichten nicht, so Sciarini: «Es ist wichtig, dass sich alle intensiv für die Kampagne engagieren, und dass die Verbände diese mitfinanzieren.

Über die diversen Beiträge herrscht allerdings noch grosse Unsicherheit. Darauf angesprochen, wollte sich Economiesuisse-Direktor Pascal Gentinetta noch nicht äussern.

«Nicht sehr professionell»

Die Sommerpause könnte den Verfechtern in die Hände spielen. «Die Kampagne beginnt erst richtig im August. Vielleicht wird bis dann die Hauruck-Operation etwas vergessen sein», sagt Pascal Scarini.

Das Vorgehen des Parlaments war seiner Meinung nach «nicht sehr professionell», vor allem auch, weil es sich um ein längerfristiges Projekt handle. Für das Parlament habe noch im März die Möglichkeit bestanden, Alternativvorschläge zu machen.

«Es ist etwas dilettantisch, in letzter Minute noch eine Änderung anzubringen», so Scarini. «Die Glaubwürdigkeit des Parlaments ist dadurch sicher etwas angeschlagen.»

Für Scarini war es auch ein Fehler, das Sanierungs-Projekt der IV, die Ende 2008 ein Defizit von 13 Mrd. Franken aufwies, in zwei Pakete aufzuteilen. Gemäss Scarini hätte die Abstimmung zur 5. IV-Revision, die verschiedene Sparmassnahmen enthielt, nicht ohne den Aspekt der Zusatzfinanzierung vors Volk kommen dürfen.

Mit den zwei Paketen mit Massnahmen zur Zusatzfinanzierung laufe man nun Gefahr, dass ein Teil abgelehnt wird. Es sei schwierig, inmitten der Wirtschaftskrise vom Volk ein Ja für eine Erhöhung der Mehrwertssteuer zu erhalten.

Doch für eine Sanierung der IV müssen beide Massnahmenpakete angenommen werden. Es sei sonst, als würde man eine Brücke nur bis zur Hälfte bauen, sagt Scarini.

Sonia Fenazzi, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub und Corinne Buchser)

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Invaliden-Versicherung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Invalidenversicherung (IV) ist eine obligatorische Versicherung. Sie sichert den Versicherten die Existenzgrundlage, wenn sie invalid werden. Dies geschieht mittels Eingliederungsmassnahmen oder Geldleistungen. Die IV subventioniert auch speziell eingerichtete Institutionen. Die Versicherung wird zu rund 40% von Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgeber finanziert. Der Rest stammt aus öffentlichen Geldern.

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17.06.07: Das Stimmvolk nimmt die Reform der IV an, die eine Serie von Sparmassnahmen vorsieht. Die Limitierung von Ausgaben ist nur ein erster Schritt. Um die finanziellen Probleme zu lösen, müssen weitere Mittel gefunden werden.

13.06.08: Die eidgenössischen Räte heissen einen Kompromissplan gut, der eine Anhebung der Mehrwertsteuer zwischen 2010 und 2016 vorsieht, um die IV zusätzlich zu finanzieren. Dazu soll ein unabhängiger Kompensations-Fonds geschaffen werden.

Weil es dafür eine Änderung der Bundesverfassung braucht, muss das Projekt Volk und Kantonen zur Abstimmung vorgelegt werden.

14.01.09: Die Regierung kündigt diese Abstimmung für den 17. Mai an.

28.01.09: Die Regierung entscheidet, die Abstimmung erst am 27. September durchzuführen. In der Zwischenzeit soll das Parlament entscheiden, ob das Projekt der Zusatzfinanzierung der IV unverändert bleiben soll oder eine brauchbare Alternative vorschlagen.

13.02.09: Die Kommission für soziale Sicherheit des Nationalrats (grosse Kammer) entscheidet sich dafür, das Projekt unverändert durchzuziehen.

21.02.09: Die Kommission für soziale Sicherheit des Ständerats (kleine Kammer) beschliesst das gleiche Vorgehen.

10.06.09: Die Wirtschaftskommissionen beider Kammern heissen eine Parlamentarische Initiative gut, welche die Periode um ein Jahr auf 2011 bis 2017 verschiebt.

11.06.09: Regierung und Ständerat heissen den Aufschub gut.

12.06.09: Auch der Nationalrat ist für eine Verschiebung.

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