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Ja zu kürzeren Asylverfahren, Nein zur Schliessung der Grenzen

"Asylchaos"? Die Flüchtlingswelle, die gegenwärtig in Europa ankommt, hat die Schweiz noch nicht erreicht: Im August wurden landesweit lediglich drei Asylgesuche mehr gezählt als im Vormonat Juli. Claudio Bader / 13 Photo

Beschleunigte Asylverfahren in der Schweiz, kostenlose Rechtsvertretung für Asylsuchende, besondere Zentren für renitente Asylbewerber: Dies sind die wichtigsten Punkte der Asylgesetzrevision, die vom Schweizer Parlament diese Woche verabschiedet wurde. Ein von der SVP vorgeschlagenes Asylmoratorium war chancenlos.

Europa erlebt in diesen Tagen eine der grössten Flüchtlingswellen seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Einige Länder haben beschlossen, ihre Grenzen zu öffnen und Tausenden von Flüchtlingen Schutz zu bieten. Diese dramatische Situation bildete den Rahmen für eine intensive Debatte im Schweizer Parlament über die Revision des Asylgesetzes. Vor allem ging es darum, die administrativen Abläufe zu verbessern. Die Diskussion im Parlament war schon seit langer Zeit angesetzt, eher zufällig fiel sie nun mit den dramatischen Ereignissen der letzten Wochen in Europa zusammen.

Revisionen des Asylgesetzes stehen im Schweizer Parlament häufiger auf der Traktandenliste. Und die Vorlagen gehören fast immer zu den umstrittensten Dossiers. Allein in der auslaufenden Legislaturperiode gab es drei Asylgesetzrevisionen. Denn zumeist wird eine Gesetzesrevision auch von den Befürwortern nach kurzer Zeit als überholt bezeichnet. Die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP) hat die Asylfrage auch dieses Jahr zu einem ihrer wichtigsten Wahlkampfthemen gemacht.

Asylgesuche 2015

Die Schweiz wurde von den dramatischen Flüchtlingsströmen, welche in diesen Monaten Europa erschüttern, bisher weitgehend verschont.

Zwischen Januar und August haben in der Schweiz 19’668 Personen ein Asylgesuch gestellt. Dies entspricht einer Zunahme um 20 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum.

In allen EU/EFTA-Staaten wurden zwischen Januar und Juli 2015 rund 550’000 Gesuche gestellt. Dies entspricht einer Zunahme um 80 Prozent gegenüber den ersten sieben Monaten des Jahres 2014.

Das Staatssekretariat für Migration erwartet, dass bis Ende Jahr rund 29’000 Asylgesuche gestellt werden. 2014 wurden genau 23’765 solcher Gesuche eingereicht.

«Kein Gesetz der Schweiz ist so häufig revidiert worden wie das Asylgesetz, das vor 35 Jahren in Kraft getreten ist», sagte Ueli Leuenberger, Nationalrat der Grünen, während der Debatte in der Grossen Kammer. Er meinte, dass die nächste Revision wahrscheinlich schon bald von den Mitte-Rechtsparteien verlangt werde. Und dies noch, bevor die gegenwärtig beratene Revision umgesetzt sei.

Würde und Rechte

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, die als Direktorin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements für den Asylbereich zuständig ist, sagte hingegen während der Debatte: «Auch wenn wir uns das nicht gerne eingestehen: Es gibt sie nicht, die abschliessende Lösung im Flüchtlingsbereich, die Lösung, die jedes Problem verschwinden lässt.»

Angesichts der internationalen Flüchtlingskrise müsse man sich aber an einigen Prinzipien orientieren, namentlich «an der menschlichen Würde, am Recht jedes Menschen auf Sicherheit – das ist ein Menschenrecht -, an der Genfer Flüchtlingskonvention, die die Schweiz wie alle Staaten Europas unterzeichnet hat.»

Nach Auffassung der Justizministerin respektiert die jüngste Asylgesetzrevision diese Prinzipien. Denn es gehe vor allem darum, die Abläufe der Asylverfahren zu beschleunigen. Im Regelfall sollten in Zukunft die Asylverfahren nicht länger als 140 Tage dauern; die Zeit für allfällige Beschwerden eingerechnet. Dadurch will man einerseits die Kosten reduzieren, aber andererseits auch vermeiden, dass Asylsuchende, die sich nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz integriert haben, ausgewiesen werden. Um ein faires Asylverfahren zu garantieren, können Asylbewerber von einem kostenlosen Rechtsbeistand Gebrauch machen, dem so genannten «Gratisanwalt.»

Zudem werden bestimmte Abläufe des Asylverfahrens beim Bund zentralisiert. Die Eidgenossenschaft kann in Zukunft eigene Asylzentren für die Aufnahme von Flüchtlingen einrichten, ohne Kantone oder Gemeinden konsultieren und um Erlaubnis fragen zu müssen. Es sind insgesamt sechs neue Bundeszentren vorgesehen, die zusammen 5000 Personen aufnehmen können, das heisst 3600 Personen mehr als in den heutigen Strukturen. Für renitente Asylbewerber, welche die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohen, wird es eigene Zentren geben.

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Kontraproduktive Massnahme

Während alle Reformen in der jüngsten Vergangenheit, welche eine Verschärfung des Asylgesetztes zum Ziel hatten, von den Mitte-Rechts-Parteien unterstützt wurden, stand dieses Mal ein geschlossener Block der Mitte-Links-Parteien hinter der Revision. Erstmals seit langer Zeit war die SVP gegen das Paket und somit isoliert innerhalb des Parlaments. Die Partei stellte rund 60 Änderungsanträge, um das Gesetz weiter zu verschärfen, doch alle wurden zurückgewiesen.

Die rechtskonservative Partei bekämpfte beispielsweise den kostenlosen Rechtsbeistand. «Damit erhalten Asylsuchende im Schweizer Rechtssystem mehr Rechte als Schweizer generell, was nicht hinnehmbar ist», schimpfte SVP-Nationalrat Heinz Brand während der Debatte. Er kritisierte auch das dem Bund eingeräumte Recht, ohne Konsens von Kantonen und Gemeinden Bundeszentren einzurichten. Im Juli hatte der SVP-Zentralvorstand die Kantonal- und Ortssektionen sogar aufgefordert, Widerstand gegen die Eröffnung neuer Asylzentren und die Zuteilung zusätzlicher Asylbewerber zu leisten.

«Diese Neustrukturierung des Asylbereichs löst kein einziges der aktuellen und künftigen Probleme! Kein einziges!», doppelte sein Parteikollege Hans Fehr nach. Die Reform sei kontraproduktiv, weil die Schweiz so noch attraktiver für Asylsuchende werde. «Die Botschaft, die mit dieser Neustrukturierung nach aussen gesandt wird, und die in den entsprechenden Ländern, zum Beispiel in Eritrea, vor allem ankommt, lautet: Kommt alle in die Schweiz; wir schaffen 6000 oder mehr neue Plätze; jeder von euch bekommt einen Gratisanwalt; wenn ihr kommt, könnt ihr lange oder praktisch für immer bleiben, und es wird für euch gesorgt.»

Sommaruga wies diese Kritik zurück. Ihrer Ansicht nach können Gesetze nicht verhindern, dass sich Flüchtlinge aus Krisenregionen auf den Weg machen und Zuflucht an einem sicheren Ort suchen. «In Ungarn ist die Zahl der Asylgesuche in der ersten Hälfte dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr nicht wie bei uns um 16 Prozent gestiegen, sondern um über 1100 Prozent. Ich glaube nicht, dass das daran liegt, dass Ungarn seine Attraktivität für Asylsuchende besonders stark ausgebaut hätte», sagte Sommaruga.

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Unmenschliche Vorschläge

Nach dem Ständerat hat nun auch der Nationalrat ganz deutlich eine Motion der SVP vom Juni zurückgewiesen, welche ein «Asylmoratorium» verlangte. Mittels Notrecht hätte das Asylgesetz für mindestens ein Jahr ausser Kraft gesetzt werden sollen.

Konkret hätte dies bedeutet, dass während eines Jahres keine positiven Asylentscheide gefällt und keine vorläufigen Aufnahmen ausgesprochen werden dürfen. Auch humanitäre Visa und Kontingentsflüchtlinge hätten nicht aufgenommen werden können.

Die SVP, die seit Monaten von einem «Asylchaos» in der Schweiz spricht, forderte weiter, die Grenzen wieder systematisch zu kontrollieren, wenn nötig mit Hilfe des Militärs. Die Mehrheit der Vertreter der anderen Parteien im Parlament hielten diese Vorschläge für unmenschlich. Die SVP versuche, Hasse und Angst in der Wählerschaft zu schüren.

«Es sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In dieser Situation ein Asylmoratorium zu fordern, ist nur noch zynisch», meinte Nationalrätin Tiana Angelina Moser von der grünliberalen Partei (GLP). Und weiter: «Die Menschen, die Familien flüchten vor Krieg und Terror, ertrinken im Mittelmeer, und Sie, Sie wollen einen Zaun um die Schweiz erstellen! Einen Zaun um die Schweiz, die in den letzten 15 Jahren den tiefsten Anteil an Asylgesuchen in Europa hat? In den ersten acht Monaten dieses Jahres kamen 20’000 Flüchtlinge in die Schweiz – so viele sind am letzten Wochenende in München angekommen.»

«In der Schweiz gibt es kein Asylchaos, niemand schläft auf dem nackten Boden eines Bahnhofs. Es kommen deutlich weniger Flüchtlinge zu uns als in den Nachbarländern. Wir sollten aufhören, Probleme zu erfinden, nur weil in fünf Wochen nationale Wahlen stattfinden», sagte der Tessiner CVP-Nationalrat Marco Romano. Auch eine Schliessung der Grenzen nannte er unverantwortlich: «Bauen Sie ruhig eine Mauer, aber schauen Sie nachher all denjenigen in die Augen, die sich davor versammeln werden.»




(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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