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«Japan behandelt Fukushima wie ein Naturereignis»

Die Japaner verhalten sich in der Regel ruhig und wollen niemandem zur Last fallen. Keystone

Trotz drohender Atomkatastrophe reist der Schweizer Autor Adolf Muschg Anfang April nach Tokio. Mit swissinfo.ch sprach der profunde Japan-Kenner über den Umgang des Landes mit der Katastrophe und den grenzenlosen Glauben an Technik und Atomkraft.

Erdbeben und Tsunami brachten Japan Tod, Leid und Verwüstung. Dazu kommt die akute Bedrohung durch den AKW-Komplex in Fukushima. Laut dem 76-jährigen Schriftsteller, der mit einer Japanerin verheiratet ist, ist die Kumulation der Katastrophen auch für die japanische Fassungskraft ungewöhnlich.

swissinfo.ch: Wie erleben Sie den Umgang Japans mit dieser schwierigen Situation?

Adolf Muschg: Mit Erdbeben und Tsunami würden die Japaner fertig, darauf sind sie durch ihre Tradition, durch Gewohnheit und Übung leidvoller Erfahrung gerüstet.

Die dritte Katastrophe, welche die ganze Welt unmittelbar angeht, stellt Japan auf eine neue Probe. Obwohl ganz neu ist sie nicht, denn Hiroshima und Nagasaki haben auf ihrem Boden stattgefunden.

Dass es den Japanern aber gelungen ist, nach dem Krieg die Atomkraft zu domestizieren, sozusagen friedfertig zu machen, gehört für das japanische Bewusstsein, auch wenn man nicht darüber redet, zu den grossen Nachkriegserrungenschaften.

Ich beobachte jetzt, dass man in Japan versucht, auch diese dritte Katastrophe, die im Grunde die ganze Leistung in Frage stellt, solange wie möglich wie ein Naturereignis zu behandeln.

Der optische Beweis dafür sind die Feuerwehrmänner, die aus allen Städten in Mannschaften anrücken, wie Armeegarde-Einheiten. Die Feuerwehr hat in Japan eine jahrhundertealte sehr feierliche Tradition und ist nicht mit unserer Feuerwehr zu vergleichen.

swissinfo.ch: Die Medien wiederholen ständig, wie gefasst und besonnen sich die Bevölkerung verhält. Stimmt dieses Bild der japanischen Mentalität? Oder sind die Japaner allenfalls gute Verdränger?

A.M.:  Gute Verdränger ist eine sehr westliche Wahrnehmung, und es ist ja auch kein Zufall, dass die Psychoanalyse in Japan nicht Fuss gefasst hat, jedenfalls nicht jene nach Sigmund Freud.

Japan ist keine diskursive Kultur, sie geht davon aus, dass es genug ist, wenn das Schlimmste eintritt und es taktlos wäre, auch noch darüber zu reden, weil man dadurch nichts ändert und sich zu wichtig nimmt. Das sind ganz hohe Tabus in Japan.

swissinfo.ch: Glauben die Menschen in Japan den Informationen, welche Behörden und AKW-Betreiber verbreiten?

A.M.: Sie halten den Sprechern, auch der Regierung, Fehlbarkeit zugute. Fehlbarkeit gehört in Japan zur menschlichen Natur. Und wenn ich gesagt habe, sie versuchen mit Fukushima wie mit einem Naturereignis umzugehen, so erstreckt sich das auch auf den Umgang mit den Verantwortlichen.

Ich überspitze jetzt absichtlich, wenn ich sage, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass die Betreiber wirklich haften müssen, abgesehen davon, dass niemand bezahlen kann, was angerichtet wurde.

swissinfo.ch: Japan ist ein hochentwickeltes Land, mit schier grenzenlosem Glauben in Technik und Atomkraft. Wird dieser Glaube durch die jetzige Katastrophe erschüttert?

A.M.: Natürlich sind die Japaner erschüttert, wie jeder Mensch und jede Gesellschaft es an ihrer Stelle wäre.

Japan hat nicht wie andere Länder vorsorglich Alternativen entwickelt, sondern fast ganz auf die Atomkraft gesetzt. Zudem gibt es für das Wachstum einen Sachzwang, von dem ich fürchte, dass die Japaner ihn nicht fundamental kritisch diskutieren, wie das jetzt in Europa geschieht.

Stattdessen wird man aus einer fürchterlichen Lage paradoxerweise versuchen, das Beste zu machen.

swissinfo.ch: Man liest sehr wenig über Atomkraftgegner in Japan. Gibt es sie überhaupt?

A.M.: Es gab sie. Zusammen mit der Jugendbewegung, den Protesten gegen den Vietnamkrieg und die drohende Re-Militarisierung Japans habe ich in den 1960er-Jahren auch Antiatom-Demonstrationen erlebt.

Aber sie haben kein grosses Echo, weil die Verschwörung des Landes zu Gunsten der Atomkraft lange wasserdicht war. Man hoffte ja auf die eigene Fähigkeit, eine sichere Technik zu produzieren – und glaubte, sie garantieren zu können.

Deshalb war der Protest eine Art Spielverderberei. Und Japaner hören nicht hin, wenn jemand verdächtig ist, Spielverderber zu sein. Das gilt generell für kritische Stimmen.

swissinfo.ch: Sie gelten nicht gerade als Atomkraft-Befürworter. Bestätigt die Katastrophe in Fukushima Ihre Haltung?

A.M.: Es ist kein Fall für Rechthaberei. Ich habe schon vor 20 Jahren gesagt, dass die Natur eine Intimsphäre hat, in die man nicht dringen soll. Es gibt eine Grenze der Materie, deren Verletzung in den Folgen unabsehbar ist. Und das erleben wir nicht nur in der Atomenergie und in der Gentechnologie, sondern an allen Fronten der Technologie.

Ich glaube, die Umbesinnung muss bei jedem einzelnen anfangen und fundamentaler sein, als wir es uns träumen liessen. Alles zusammen gibt dann hoffentlich eine neue Richtung.

swissinfo.ch: Die CO2-arme Kernenergie hat auch in Japan Wohlstand und Wachstum gefördert. Ist ein gewisses «Restrisiko» bei AKW der Preis, den wir für Fortschritt und wachsenden Konsum bezahlen müssen?

A.M.: Restrisiko ist ein viel schlimmerer Euphemismus als jeder, dessen sich Japan heute schuldig machen kann. Restrisiko ist kein Restrisiko, sondern darin versteckt sich das Verschwiegene und nicht Bewältigte jeder Spitzentechnologie, die nur noch auf den bequemsten Gewinn aus ist.

Es sah so aus, als wären die Atomkraftwerke umweltschonend und kostengünstig. Beides hat sich als fundamentale Täuschung erwiesen. Es ist eine Energie, die wir uns nicht leisten können. Und die Sicherheit, die dieser Energie verlangt, ist auch nicht wünschbar.

swissinfo.ch: Albert Einstein hat gesagt, die Atomenergie werde die Menschheit überfordern. Sind wir jetzt soweit? Werden wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los?

A.M.: Ja, und wenn man den alten Goethe richtig liest, haben wir das Szenario, in dem man durch Verblendung seine Seele verliert. Es steht alles da. Die fatalen Seiten des Drehbuchs unserer Moderne sind längst geschrieben.

In einer nicht repräsentativen Online-Umfrage von swissinfo.ch sprachen sich bis zum 24. März 2011 80% (1183 Personen) für einen Ausstieg aus der Atomenergie aus. 18% (276) sagten Nein, und 2% (33) hatten keine Meinung.

Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 in Zollikon, Zürich, geboren.

Er studierte Germanistik, Anglistik und Psychologie.

Nach der Dissertation arbeitete er drei Jahre als Lehrer.

Später lehrte er an Universitäten in Tokio, Göttingen, Ithaca (New York) und Genf.

1970 bis 1999 war er ausserordentlicher Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich.

Der Schriftsteller und Literaturwissenschafter war von Mai 2003 bis Ende 2005 Präsident der Akademie der Künste in Berlin.

Muschg veröffentlichte Romane, Erzählungen, Biografien, Essays, Hörspiele, Drehbücher und Theaterstücke.

Er erhielt nahezu alle bedeutenden deutschsprachigen Literaturpreise, darunter 1994 den wichtigsten, den Georg-Büchner-Preis.

Adolf Muschg ist ein profunder Kenner Japans. Seit den frühen 1960-Jahren hält er sich immer wieder dort auf. Er ist er mit einer Japanerin verheiratet.

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