Junge an die Urne? Zeit für eine neue Perspektive
Die jungen Klimastreikenden sind wieder da: Ende September haben sie von Argentinien über den Bundesplatz in Bern bis nach Kenia protestiert. Aber die Mehrheit der unter 25-Jährigen sind nur mässig oder gar nicht an den Werkzeugen der Demokratie interessiert. Die Schweiz nimmt das schulterzuckend zur Kenntnis. Österreich und Australien gehen andere Wege.
Die Nachricht an die Politikerinnen und Politiker rund um die Welt ist laut und unmissverständlich: «Ihr seid zu viel zu langsam, macht endlich vorwärts mit Klimaschutz, aber dalli!»
Bern, 21. September: Jugendliche Klimaaktivistinnen und -aktivisten stellen auf dem Bundesplatz – nur durch eine Strassenbreite von Parlament und Regierung entfernt – ein Protestcamp auf. Weil drinnen im Bundeshaus das Parlament tagt, ist die politische Aktion davor illegal. Mit ihrem Akt des zivilen Ungehorsams sorgen die Klimajugendlichen für grosse Diskussionen. Nach drei Tagen wird das Zeltlager von der Polizei geräumt und werden 85 Teilnehmende verzeigt.
Die Klimajugend, inspiriert durch die schwedische Aktivistin Greta Thunberg, ist die politische Speerspitze der Generation der U25. Sie ist hoch aktiv, dies aber nur sehr selektiv. Nämlich nur bei Themen, die sie unmittelbar betreffen: Als junge Menschen mit hoher Lebenserwartung – zumindest in Europa – wollen sie das Klima und damit den Planeten retten.
Druck von aussen, nicht von drinnen
Das Bild von Bern bringt es auf den Punkt: Die Klimajugendlichen führen ihren Kampf draussen auf der Strasse und nicht drin im Bundeshaus, also nicht auf den Kanälen der «klassischen» Demokratie. Denn nur eine Minderheit greift in deren Toolbox und beteiligt sich an Abstimmungen und Wahlen sowie Bürgerinitiativen oder tritt in eine Partei ein. Dieser Weg dauere angesichts der tickenden Uhr viel zu lange, so die Hauptkritik.
Es besteht ein Graben zwischen den partiell hoch aktiven U25 und der institutionellen Demokratie.
Ausdruck dieses Graben ist auch ein Umstand, der auf den ersten Blick überrascht: In der Hitparade jener Themen, welche die Jungen in der Schweiz am meisten bewegen, fehlt das Stimmrechtsalter 16.
Der Graben lässt sich beziffern: An den Parlamentswahlen 2019 nahmen nur 33% der Stimmberechtigten von 18- bis 24 Jahre teil. Die Gruppe der 65- bis 74-Jährigen dagegen ging mit 62% in fast doppelter Stärke an die Urnen. Die generelle Schnitt lag bei 45,1%.
Dabei war es gerade die Klimajugend gewesen, die bei den Schweizer Parlamentswahlen vor einem Jahr wesentlich zum historischen Sieg der Grünen und dem Etikett der «Klimawahl» beitrugen.
Seit einem Vierteljahrhundert dümpelt die durchschnittliche Teilnahme der U25 bei Wahlen in der Schweiz um einen Drittel herum. Ausreisser nach unten waren die Wahlen 1995: Trotz der Premiere des Stimmrechtsalters 18 in der Schweiz machten nur gerade 22% der U25 mit. Höchstwert sind bis heute die 35% bei den Wahlen 2003.
Die alte Platte
Das Lamento der Mehrheit im Parlament über das geringe Interesse des Schweizer Demokratie-Nachwuchses gleicht einer Leierplatte. Denn genau dieselben Volksvertreterinnen und -vertreter sind es, die seit Jahren alle Vorstösse versenken, die darauf abzielen, die politische Bildung an Schulen zu stärken, in dem diese neu Sache des Bundes würde. So sorgt der Föderalismus dafür, dass die politische Bildung ein bildungspolitischer Flickenteppich bleibt: In der Mehrheit der 26 Kantone ist sie dem Schulfach Staatskunde angehängt – mit einer Lektion pro Woche.
Das kontrastiert stark mit dem Glanz, in den die Politiker die Demokratie Schweiz gerne eintauchen. Dabei sagt der Volksmund klipp und klar: «Von nichts kommt nichts!» Und im Sport sagt der Trainer zu jedem Neuling: «Sieger kommen nicht aus dem Nichts!»…
Doch die Präsenz der Klimajugend hat eine neue Dynamik entfacht. «Wir müssen davon wegkommen, die Stimmabgabe als Höhepunkt der Demokratie zu verabsolutieren,» forderte jüngst ein Teilnehmer – ein Mittelschullehrer – an einer Veranstaltung in Bern zur Jugendpartizipation. Ihr Thema: «Von der Strasse an die Urne?»
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Ein solcher Perspektivwechsel könnte tatsächlich einen Paradigmenwechsel einläuten. Zwar ist unbestritten: In der direkten Demokratie ist die Stimmabgabe ein zentraler Akt im Entscheidungsprozess über die Lösung einer Sachfrage.
Zugänglichkeit zur Politik verbessern
Doch vor der Stimmabgabe gibt es ein Feld an Partizipationsmöglichkeiten, das viel grösser ist, als es die Schweiz heute kennt. Stichwort «Liquid Democracy»: Die «flüssige Demokratie» zielt darauf ab, genau jene Menschen und Gruppen ins Boot holen, die zwar eine Forderung an die Politik haben, ohne aber die klassischen Kanäle der Demokratie benutzen zu wollen oder können.
Eine Zielgruppe der «flüssigen Demokratie» sind also just die Klimabewegten, die das System bewusst von ausserhalb unter Druck setzen wollen.
Taiwan an der Spitze
Die Debatte über eine solche Ergänzung, sprich die Öffnung der Demokratie Schweiz, findet bisher aber erst im kleinen Zirkel der Demokratie-Freaks statt. Die etablierte Politik dagegen befürchtet wohl eine neue Konkurrenz, weshalb sie dem Konzept sehr skeptisch gegenübersteht oder es schlicht ignoriert.
Anderswo dagegen ist «Liquid Democracy» längst Realität. So etwa in Taiwan, wo alle, also auch Teenager, Themen via digitale Plattformen auf die politische Agenda setzen können. Erhalten sie die Unterstützung von 5000 Personen, kommt ihr Vorschlag auf die politische Agenda, wo er mit allen Stakeholdern inklusive den Absendern umgesetzt wird. Auch, wenn diese noch minderjährig sind.
Abgesehen von der Diskussionen um politische Bildung, Stimmrechtsalter 16 etc.: Die Beteiligung der Jungen in einer Demokratie ist grundsätzlich vital. Das gilt für die Schweiz wie alle anderen Demokratien.
Konkret bedeutet eine starke aktive Präsenz der Jungen eine Stärkung von
● Repräsentation
● Meinungsvielfalt
● Diversität
● Nachhaltigkeit
● Gerechtigkeit
● Integration und
● Wertschätzung.
Das alles sind Kriterien, die für die Qualität einer Demokratie und den Kitt in der Gesellschaft insgesamt entscheidend sind.
Der Mut des Nachbarn
Ob in Skandinavien, Nordafrika, Lateinamerika oder Asien, zahlreiche Länder stehen vor demselben Phänomen wie die Schweiz.
Dass es aber auch anders geht, zeigt der Blick zum östlichen Nachbarn. 2007 hat Österreich das Stimmrechtsalter 16 eingeführt – als erstes Land in Europa. Und das auf allen drei Ebenen. Es begann mit einem Furioso: 2008 nahmen 88% der 16- und 17-Jährigen an der Premiere teil. Bei den Wahlen 2013 waren es immer noch stolze 63%. Interessant: Die Teilnahme der 18- bis 25-Jährigen lag mit 59% tiefer.
Abgesehen von den nackten Zahlen der kurzfristigen Beteiligung belegen Studien aber auch längerfristige, nachhaltige Auswirkungen: Die Teilnahme im Jugendalter ist für viele eine politische Sozialisierung, eine Art demokratischer Initiationsritus. Sie fühlen sich einerseits ernstgenommen, andererseits wirkt die Erfahrung prägend, dass auch die spätere Teilnahme persönlich und gesellschaftlich wertvoll ist.
Ansonsten aber kocht auch der Nachbarn nur mit Wasser. Politische Bildung ist in Österreich nur an Berufsschulen ein eigenes Unterrichtsfach, an höheren Schulen dagegen nur ein Unterrichtsprinzip, sagt Sylvia Kritzinger, Professorin am Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien.
Auch geht die Entwicklung nicht über die Senkung des Stimmrechtsalters hinaus. Auch in Österreich ist also «flüssige Demokratie» noch ein Fremdwort. Stimmrechtsalter 16 kennen übrigens ebenfalls Argentinien, Brasilien und Schottland. In der Schweiz ist es einzig der Kanton Glarus (siehe Text unten).
Wahlpflicht – aus dem Blutzoll geboren
Einen gänzlich anderen Weg geht Australien: In Down Under herrscht Wahlpflicht. Alle ab 18 Jahren müssen bei den nationalen Wahlen ihre Stimme abgeben. Das führt zu einer Wahlbeteiligung von im Schnitt über 90%.
Die Teilnahme der U25 liegt mit 86% nicht weit darunter, sagt Zareh Ghazarian, Dozent für Politik und internationale Beziehungen an der Monash Universität in Melbourne. Als Zielwert habe die australische Wahlkommission (AEC) für die Jungen die Marke von 80% angesetzt. Alle, die nicht teilnehmen, müssen mit einer Busse von bis zu 80 australischen Dollars rechnen – das sind über 50 Schweizer Franken!
Punkto politischer Bildung präsentiert sich die Lage am anderen Ende der Welt ähnlich wie in der Schweiz: Zwar lässt sich die Wahlkommission AEC den Bereich einiges kosten. Doch abgesehen vom Effort der Zentralbehörde herrscht ein buntes föderalistisches Patchwork. Während einige Bundesstaaten politische Bildung als eigenes Schulfach pflegen, wird sie anderswo an andere Fächer angehängt, beispielsweise an Englisch, sagt Jacqueline Laughland-Booÿ von der katholischen Universität Australiens in Brisbane.
Die Wahlpflicht übrigens datiert aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Da dieser auch unter Soldaten aus Australien einen hohen Blutzoll forderte, wurde die Wahlpflicht eingeführt. Dies, um die Repräsentativität und die Legitimation der Wahlen zu erhöhen.
Kantone
Als einziger Kanton in der Schweiz hat Glarus Stimmrechtsalter 16 (seit 2007).
Zahlen zur Teilnahme der jungen Glarnerinnen und Glarner sind nicht erhältlich. Aber Behördenvertreter sind sich einig, dass sich der Kreis der Landsgemeinden «sichtbar verjüngt» habe. (Glarus ist mit Appenzell Innerrhoden der letzte Kanton mit einer Landsgemeinde).
Die Forderung ist auch Thema in anderen Kantonen, so Bern, Luzern, Zürich und Zug.
Im Kanton Neuenburg haben die Stimmenden im Februar die Einführung klar abgelehnt.
Nationale Ebene
Am 10. September hat der Nationalrat eine parlamentarische Initiative für das Stimmrechtsalter 16 auf nationaler Ebene angenommen. Dies entgegen der Empfehlung seiner vorberatenden Kommission.
Der Vorstoss stammte von Sibel Arslan von den Grünen. Sagt auch der Ständerat Ja, wird das Parlament einen Gesetzesentwurf ausarbeiten.
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