Junge zeigen schwankendes Interesse an Politik
Trotz einem Desinteresse an Abstimmungen fehlt es der jungen Generation nicht an Fantasie, wenn sie sich für eine politische Sache einsetzt. Trotzdem sind die neuen Mobilisierungsformen über das Internet oft nur von kurzlebiger Wirkung.
Bei den letzten nationalen Wahlen von 23. Oktober 2011 haben sich 32% der jungen Schweizerinnen und Schweizer zwischen 18 und 24 Jahren zur neuen Zusammensetzung des Parlaments geäussert.
Auf der anderen Seite der Alterspyramide, bei den Personen über 75 Jahren, haben 70% ihre Meinung an der Urne ausgedrückt.
Der gleiche Kontrast findet sich auch bei den meisten Abstimmungen. Das Phänomen ist aber nicht neu, es hat sich lediglich in den letzten Jahren etwas verstärkt.
Während nun einige Politiker im Zusammenhang mit der partizipativen Demokratie der Schweiz bereits von «Greisenherrschaft» sprechen, straft eine kürzlich publizierte Studie die Vorstellung Lügen, dass sich junge Erwachsene immer weniger für Politik interessieren würden.
«Man darf die politische Partizipation nicht allein auf Abstimmungen und Wahlen reduzieren», sagt Martina Rothenbühler vom Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS), Autorin der ersten Schweizer Untersuchung über junge Menschen zwischen 18 und 25.
«Eine ganze Serie von neuen Formen der nichtinstitutionellen Partizipation ist in den letzten Jahren aufgetaucht, besonders über das Internet und die sozialen Netzwerke.»
Falsche Hochzeit
Die intelligente Mobilisierung von Massen zu politischen Zwecken, genannt «Smartmob», ist ein Beispiel dieser neuen Formen von politischem Engagement. Via Internet oder SMS aufgerufen, versammeln sich Personen, die sich nicht kennen, zu einer gemeinsamen Aktion, die rasch und meist auf spektakuläre Art und Weise auf etwas aufmerksam macht.
So wurden zu den beiden armeekritischen Volksinitiativen «Für den Schutz vor Waffengewalt» und «Kriegsmaterial-Exportverbot» solche Aktionen durchgeführt. In grösseren Städten konnte man Gruppen beobachten, die das Abfeuern eines Schusses aus einer Armeewaffe mimten und sich daraufhin fallen liessen. Nachdem sie einige Minuten liegengeblieben waren, verschwanden sie rasch wieder in der Menge.
Der 22-jährige Geologie-Student Piero Schmid von der Universität Freiburg kennt diese Art von Aktionen. Nach einem Aufruf der Organisation «SOS Racisme» stellte er sich für eine falsche Hochzeit auf der Strasse zur Verfügung, um gegen das Verbot zu protestieren, dass Ausländerinnen und Ausländer ohne Aufenthaltsbewilligung keine Schweizer Bürger heiraten dürfen.
«Die Kommunikationsmittel haben die Art und Weise des Denkens und des Politikmachens völlig verändert», sagt er. «Diese Aktionen, bei denen Kunst, Ironie und Werte zusammenkommen, ziehen derzeit mächtig an.» Der Tessiner hat zwar keine Parteibindung, sympathisiert aber mit politisch linken Ideen.
Pragmatismus
«Die Jungen engagieren sich dynamisch und punktuell. Sie wissen sich aktiv zu einem Thema zu mobilisieren, doch sobald dieses aus den Schlagzeilen verschwindet, ziehen sie sich zurück», hat Micha Küchler, Mitarbeiter der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV), beobachtet.
«Ich denke beispielweise an die Demonstrationen nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima. Diese neue Realität entspricht der immer fragmentierteren Welt, in der sich die Informationen in ununterbrochenem Rhythmus folgen.»
Abgesehen von einer Handvoll Aktivisten und Sympathisanten im klassischen Sinn scheint ein langfristiges Engagement immer mehr zurückzugehen. «Ich selber bin ein solches Beispiel», gibt Piero Schmid zu. «Ich habe weder Zeit noch Lust, jederzeit aktiv zu bleiben.»
Auch wenn Micha Küchler es als positiv bewertet, dass die jungen Erwachsenen fähig sind, auf Distanz zu den Institutionen zu gehen und vorgefasste Antworten zu hinterfragen, betont er, dass es «ohne institutionelle Verankerung schwer ist, einen nachhaltigen Wandel zu erwirken».
Martina Rothenbühler hat festgestellt, dass «junge Wählende sich dann engagieren, wenn sie oder ihnen Nahestehende direkt betroffen sind. Das war beispielsweise der Fall bei der Abstimmung über die Ausschaffung krimineller Ausländer oder beim Verbot des Aufbewahrens von Armeewaffen daheim».
Ungenügende politische Ausbildung
Oft werden junge Stimmbürgerinnen und Stimmbürger auch durch komplexe oder technische Themen abgeschreckt. «Ich gehe prinzipiell immer abstimmen, auch wenn ich die Probleme nicht immer verstehe», sagt Schmid. «Die Politiker sind oftmals konfus und widersprechen sich selber. Zudem ist die politische Ausbildung in der Schweiz schlicht ungenügend.»
Für Küchler ist es unbedingt nötig, dass die Schulen ihre staatsbürgerliche Ausbildung verstärken, die sie oft aus Spargründen geopfert haben. Dies sei besonders für Jugendliche aus benachteiligten Verhältnissen oder anderen Kulturräumen wichtig.
Hier legt die FORS-Studie den Finger auf einen wunden Punkt: Zwischen den gut ausgebildeten jungen Menschen und den anderen herrscht ein tiefer Graben, was die politische Teilnahme betrifft, während zwischen Männern und Frauen heute kaum mehr Unterschiede feststellbar sind.
Trotzdem hat der Vertreter der SAJV das Gefühl, dass «auch die Erwachsenen zum Teil überfahren werden» von gewissen Themen, besonders im Bereich der Wirtschaftspolitik. «Die Jungen meinen, dass sie alles verstehen müssen, bevor sie sich zu einem Thema äussern. Doch tatsächlich sind sie in ziemlich kurzer Zeit ebenso gut informiert wie ihre Eltern.»
Hoffen auf E-Voting
Da die Barrieren zwischen realer und virtueller Welt zunehmend verwischt werden, schätzt Studienautorin Martina Rothenbühler, dass die Möglichkeit zur elektronischen Stimmabgabe das politische Engagement der Jugend verstärken könnte: «In Genf konnte man zeigen, dass die Jungen mehr mitmachen und bei der Wahlbeteiligung nicht mehr untervertreten sind, wenn sie die Möglichkeit erhalten, online abzustimmen.»
Warnende Opposition erwächst ihr von Piero Schmid: «Abstimmen ist ein Akt, der Zeit und Engagement verlangt. Es geht nicht einfach nur darum, bei einer Facebook-Statusmeldung ‹gefällt mir› anzuklicken. Zudem sind die Risiken von Manipulation und Propaganda im Internet gross.»
Dies sehen auch mehrere junge Gewählte ähnlich. So wird die neu gegründete Piratenparte nicht müde, wiederholt vor den Gefahren einer «digitalen Diktatur» zu warnen.
Eine Debatte, die noch lange anhalten wird – und die zeigt, dass sich die Internet-Generation 2.0 auch kritisch gegenüber ihrem digitalen Umfeld und ihrer eigenen Art, die Politik zu gestalten, äussern kann.
Die Selects-Studie, durchgeführt nach den nationalen Wahlen vom letzten Herbst, zeigt für die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen die seit Anfang der 1990er-Jahre höchste Stimmbeteiligung.
«Bis damals war die Politik in der Schweiz stark ritualisiert. Das System war sehr stabil, die Zusammensetzung des Bundesrats unbestritten», sagt dazu Politologe Georg Lutz, verantwortlich für die Studie.
«Die steigende Polarisierung hat das Blatt gewendet und die Jungen zunehmend mobilisiert», so Lutz.
Doch trotz steigendem Interesse bleibt der Unterschied zwischen den Generationen markant. «Je älter man wird, desto eher wählt man», fasst Lutz zusammen.
«Die älteren Menschen wählen aus Gewohnheit und Pflichtgefühl. Junge hingegen gehen nur an die Urne, wenn sie sich von einem konkreten Thema betroffen fühlen.»
Die Mehrzahl der Abstimmungsthemen. sei es auf nationaler, kantonaler oder lokaler Ebene, schaffe es aber nicht, die Jugend zu mobilisieren, so der Politologe.
Zusammen mit dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung (SBF) hat das Lausanner Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS) 1360 Schweizerinnen und Schweizer zwischen 18 und 25 Jahren zu ihrer Partizipation am politischen Leben befragt.
Laut dem Bericht ziehen junge Erwachsene die Form der gelegentlichen, informellen und individuellen Teilnahme vor und engagieren sich nur kurzfristig.
Die so genannte «intelligente» politische Mobilisierung (Produkt-Boykotte, Online-Petitionen, Facebook-Gruppen) spielt eine immer wichtigere Rolle.
Die Autoren schätzen, dass die neuen, noch nicht überall bekannten Formen der politischen Partizipation für junge Erwachsene neue Zugangsmöglichkeiten zur Politik sein könnten.
Ebenfalls vermuten sie, dass die Möglichkeit zur elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen und Abstimmungen vermehrt junge Stimmberechtigte zum Mitmachen motivieren könnte.
Schliesslich habe der Bildungshintergrund eine starke Wirkung auf die Teilnahme an Urnengängen. Häufig bezeichneten Junge die Formulierung von Abstimmungsvorlagen als zu kompliziert.
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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