Jura-Konflikt: Eine Minderheit war so frei, sich abzuspalten
Separationsgelüste und entsprechende Bewegungen prallen in der heutigen Landschaft von Nationalstaaten immer an der Staatsmacht ab. In der Schweiz aber konnte sich der Jura friedlich und demokratisch vom Kanton Bern lossagen. Das gelang, weil die Schweiz speziell gebaut ist, schreibt Gastautor Andreas Gross.
Die Schweiz ist von unten nach oben gebaut: Gemeinden bilden Kantone. Kantone bilden den Bundesstaat. Diese Architektur lässt den Regionen ihre Eigenheiten und gibt ihnen die Freiheit, die es braucht, damit ein viersprachiger Staat zusammenhält. Sie hat auch dazu geführt, dass eine Separation erfolgen konnte, bei der niemand das Gesicht verlor.
Warum klappte in der Schweiz, was den Schotten in Grossbritannien, den Flamen in Belgien, den Südtirolern in Italien nicht gelingen konnte? Im folgenden Beitrag weist Jura-Kenner und Demokratie-Experte Andreas Gross auf deren Ursprünge in der Geschichte hin: Alle diese Minderheiten waren Spielbälle von grösseren Mächten – und bleiben bis heute von oben nach unten regiert: So wie die Bretonen und Korsen in Frankreich, die Katalanen in Spanien oder auch die Kurden in der Türkei.
2114 Ja gegen 1740 Nein: Am Sonntag haben die Stimmenden des Städtchens den Wechsel vom Kanton Bern zum Jura mit deutlichem Mehr von über 370 Stimmen beschlossen. Die Stimmbeteiligung betrug 88% – ein fast «unschweizerisch» hoher Wert.
Die projurassischen Sieger feierten das Verdikt mit Parolen wie «Moutier, bernois, plus jamais!» (Moutier nie mehr bernisch!).
«Heute hat die Demokratie gewonnen», sagte Valentin Zuber, in der Exekutive Moutiers für das Juradossier zuständig. Das Resultat sei klar genug, um die Jurafrage «demokratisch und elegant zu lösen».
Nach der Annullierung der Abstimmung von 2017 wegen unerlaubter Behördenpropaganda und Unregelmässigkeiten entsandte das Bundesamt für Justiz 18 Wahlbeobachter*innen an die gestrige Abstimmung – es war der bestüberwachte Urnengang in der Geschichte der Schweiz.
Sie attestierten der Gemeinde einen korrekten Ablauf der Abstimmung sowie der Auszählung der Stimmen. Letztere wurde auf dem YouTube-Kanal der Gemeinde live gestreamt.
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Völker als Siegerbeute
Bis vor 100 Jahren waren es nicht nur Staaten, sondern Imperien, welche die meisten Völker Europas beherrschten. Alle während Jahrhunderten üblichen Kriege zwischen den in wechselnden Formationen verbandelten Imperien stellten die Zugehörigkeit der einzelnen Völker immer wieder in Frage. Denn Völker gehörten zur Kriegsbeute der jeweiligen Sieger. Gewann der russische Zar, beanspruchte er polnische Gebiete für sich. Gewannen die Preussen, musste das Elsass daran glauben.
So gingen auch 1815 am Wiener Kongress nach der Niederlage von Frankreichs Napoleon die in der «Heiligen Allianz» verbundenen imperialen Herrschaften von Russland, Grossbritannien, Österreich und Preussen ans Neuverteilen der napoleonischen Kriegsgewinne. Die Lombardei und Venedig kamen wieder unter die Fuchtel Habsburgs; Dänemark verlor Norwegen an Schweden.
Der imperiale Wiener Beschluss war für die territoriale Organisation des eidgenössischen Staatenbundes entscheidend: Der Jura, das Gebiet des alten Bistums Basel, wird dem Kanton Bern überlassen. Vordergründig zur Kompensation dafür, dass Bern die von Napoleon befreiten alten bernischen Herrschaften Waadt und Aargau nicht wieder zurückerhielt.
Wichtiger war freilich das Bemühen der imperialen Herrscher Europas, Frankreich einen starken Nachbarn an seine Grenzen zu legen, um möglichen neuen Expansionsgelüsten gewisser Franzosen von vornherein Einhalt zu gebieten.
Von den Hunderttausenden von herumgeschubsten Menschen und Orten wurde niemand gefragt, ob und welcher Seite sie sich am liebsten anschliessen möchten. So hätte sich die Ajoie und das Birseck mit Porrentruy als Hauptstadt lieber einen eigenen Kanton in der Eidgenossenschaft gewünscht. Auch einige Bieler wünschten sich die Schaffung eines eigenen Kantons, zusammen mit dem St. Immer-Tal und dem Städtlein La Neuveville am Bielersee.
Promoter von Selbstbestimmungsrecht und Demokratie
Doch die Freiheit und das «Selbstbestimmungsrecht» des Volkes und der Nationen waren neue, revolutionäre Ideen, deren vermeintlicher Promotor eben militärisch besiegt worden war. So zählten die Bedürfnisse der betroffenen Menschen und Regionen wenig, die imperialen Herrschaftsinteressen setzten alles alleine durch.
Vor 100 Jahren begann sich dies zu ändern. Denn zu den prägenden Figuren der Konferenz von Versailles am Ende des Ersten Weltkrieges und zur Organisation des nach-imperialen Europas gehörte der US-Präsident Woodrow Wilson. Ein Kriegsgewinner, der mit dem Krieg der Demokratie und dem «Selbstbestimmungsrecht der Nationen» zum Durchbruch verhelfen wollte.
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Der Jura-Konflikt enthielt alle Zutaten für einen Schweizer Bürgerkrieg
Wilson dachte dabei mehr an «historische Nationen» wie Polen, die Tschechen, die Slowaken, die Belgier und die Italiener. Dem multinationalen Charakter der meisten «Nationalstaaten» sich wohl bewusst, dachte Wilson dabei vor allem an die «demokratische Selbstbestimmung».
Aus den alten Imperien entstanden dann neue «Nationalitätenstaaten», beispielsweise die tschechoslowakische Republik und das Königreich Jugoslawien. Sie aber wurden im alten monarchisch-autokratischen Stil organisiert und regiert – also wie ein Nationalstaat. Das bedeutete, dass ein Volk, meistens das «Mehrheitsvolk», dominierte, und die anderen Völker fühlten sich als Minderheit je nach dem diskriminiert, unterdrückt, amputiert.
Kein Recht auf Sezession
Nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts des beginnenden Dekolonisations-Prozesses setzte sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundwert der Charta der neuen Vereinten Nationen durch. Das heisst, alle Staaten der Welt haben sich zur Einhaltung und Respektierung der Selbstbestimmung verpflichtet. Damit ist diese zu einem Menschenrecht geworden.
Doch weil das geltende Völkerrecht auch die «territoriale Integrität aller Staaten» schützt und die Welt sich bisher auch nicht auf einen Begriff «des Volkes» und «der Nation» verständigen konnte, gibt es kein «Sezessionsrecht des Volkes».
Die Folge: Der nach wie vor multinationale Charakter vieler so genannter «Nationalstaaten» führte und führt immer noch zu Spannungen und teilweise heissen Konflikten, die manchmal bis zu Bürgerkriegen ausarteten. Denken wir nur an die Kurden in Syrien, der Türkei und dem Irak oder an Kaschmir in Pakistan oder Tibet in China.
Föderalismus als Glücksfall
Die Jurassier hatten Glück im Unglück. Sie empfanden schon früh – die sensibelsten unter ihnen bereits in den 1830er-Jahren – ihre Überstellung an Bern durch den Wiener Kongress als «Unrecht», als Unglück. Als Glück können sie sehen, dass Bern bald zu einem Kanton in einem sehr föderalistisch konzipierten Bundesstaat werden sollte – 1848, als erste Demokratie in Europa von Dauer.
Ausgeprägt föderalistisch verstand sich der demokratische Bundesstaat Schweiz, weil seine Kantone sich wiederum als autonome Vereinigungen mehr oder weniger autonomer Kommunen begriffen. So war die Schweiz von unten gebaut worden; Kommunen fanden sich zu Kantonen zusammen, die sich wiederum zum ersten europäischen Bundesstaat vereinigten, in dem die Kantone den Begriff des «Staates» und die damit verbundene Autonomie bis heute für sich beanspruchen.
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«Für eine friedliche Lösung braucht es eine Generation»
Dieses Glück hatten weder die Katalanen noch die Schotten, weder die ungarischen Siebenbürgener in Rumänien noch die Nordiren oder die Korsen: Alle fünf fanden sich in den alten Monarchien nachempfundenen Einheitsstaaten wieder, in deren zentralistischen Verfassungen es für regionale Autonomien und Selbstbestimmung keinen festen Platz gab.
Entscheidend war der erste Schritt, der den eben sich neu organisierenden Jurassiern 1950 gelang: Die Regierung des Kantons Bern hatte eine Forderung des 1947 formierten «Comité de Moutier für die Verteidigung der Rechte des Jura» aufgenommen und eine Änderung der Berner Kantonsverfassung ausgearbeitet. Demnach sollten das jurassische Volk als «Nation» im Kanton Bern anerkannt und das Jura-Wappen ebenso wie die französische Sprache auch entsprechend respektiert werden.
Autonomie: Ja, aber wie viel?
Im Oktober 1950 stimmte die Mehrheit der Berner Männer diesem Zusatz in der Kantonsverfassung zu. Damit legitimierten sich auch die Forderungen nach einer gewissen Autonomie für die Jurassier. Doch wieviel Autonomie sollte dies sein?
Da kam den Jurassiern ihr doppeltes Glück zu Hilfe. Denn Bern war nicht nur als autonomer Teil eines Bundesstaates mit der Idee der Autonomie vertraut; Bern war auch ein Kanton, der ein Pionier der direkten Demokratie war. Das heisst, auch in Bern konnten wie in allen Kantonen Bürger Verfassungsanregungen ausarbeiten.
1957 Weiche für Teilung gestellt
Das separatistische Rassemblement Jurassien (RJ), die Nachfolgeorganisation des «Comité de Moutier,» nutzte auch dieses demokratische Recht. Es lancierte im September 1957 eine kantonale Volksinitiative zur Frage, ob die Jurassier einen eigenen Kanton errichten sollten.
Nicht nur die deutliche Mehrheit des ganzen Kanton Bern sagte Nein; auch vier von sieben «jurassischen» Bezirken lehnten, wenn auch knapper, die Schaffung eines eigenen Kantons ab. Eine deutliche Zustimmung zu einem neuen Kanton gab es nur in den drei nördlichsten, mehrheitlich katholischen Jura-Bezirken Pruntrut, Freiberge und Delsberg.
Damit wurde der Jura erstmals mit seiner politischen Teilung konfrontiert, genauer: mit der eigenen Vielfalt im Kleinen. Eine Teilung, die alle gesamtjurassischen Volksabstimmungen von 1957 bis 2013 bestätigen sollten: Denn nicht alle Jurassier wollten von Bern weg. Die drei südjurassischen und protestantischen Bezirke Courtelary, Moutier und La Neuveville stimmten stets für das Fortbestehen der Verbindung zu Bern.
Strategische Berner Softpower
Meines Erachtens ist dies die Folge davon, dass die Republik Bern schon zwischen 1100 und 1500 diese beiden von West nach Ost verlaufenden Täler der Schüss (Suze, Vallon de St. Imier) und der Oberen Birs bis zur Klus unterhalb von Moutier als eigentliche Schutzmauern gegen die «bösen Burgunder» verstand und in mancherlei Beziehungen besonders grosszügig behandelte.
Es war dies eine weitsichtige «Investition», die sich nicht nur in der Reformation sondern seither immer wieder auszahlen sollte – mit der Treue zu Bern bis zum heutigen Tag.
Doch die Jurassier gaben nicht auf. Mit vielerlei Aktionen, auch zivilem Ungehorsam, ja Gewalt gegen Sachen, veranlassten sie die Berner Regierung zur Ausarbeitung eines Plans «zur Lösung der Jura-Frage». Dieser Plan war geprägt von den kommunalistischen, föderativen und direktdemokratischen Traditionen Berns und der Schweiz.
Die Abstimmungs-Kaskade
Sein Preis, der den meisten von Anfang an klar war: die innere Teilung des Juras. Der Plan wurde im Frühling 1970 von einer klaren Mehrheit der Berner in ihre Kantonsverfassung aufgenommen. Er sah die berühmte Abstimmungs-Kaskade auf Bezirks- und Gemeindeebene vor, die dann 1978 zur Schaffung und den Grenzen des neuen Kantons führen sollte.
Am 23.Juni 1974 stimmten die Jurassier in einem regionalen Urnengang mit 36’802 Ja gegen 34’057 Nein für die Trennung von Bern und einen eigenen Kanton. Im März 1975 bestätigten die drei ablehnenden südjurassischen Bezirke, dass sie weiterhin Teil des Kantons Bern bleiben wollen.
Im September 1975 entschieden die Gemeinden, die an der neuen Kantonsgrenze lagen, auf welcher Seite sie künftig sein möchten, bei Bern oder im Jura. Dann war es so weit: Im September 1978 stimmten dann auch 82% der stimmenden Schweizerinnen und Schweizer dem neuen, 26. Kanton der Schweiz zu.
Der Kippmoment in Moutier
In Moutier, der alten Klosterstadt und wichtigsten Gemeinde des Südjuras, hatten die Separatisten 1974 noch knapp verloren. Doch in den 1980er-Jahren kippten die Machtverhältnisse. Im Stadtparlament und in der Stadtregierung haben seither die Anhänger des Kanton Jura immer eine kleine Mehrheit. Dennoch lehnte Moutier 1998 in einer Konsultativabstimmung den Übergang in den neuen Kanton ab.
Erst im November 2013 deutete sich wieder ein Umdenken an, als sich Moutier als einzige Gemeinde des Südjuras für die Überwindung der Teilung des Jura und einen neuen grossen Kanton Jura aussprach. Im November 2017 zeigte sich dann die Konsequenz, als sich in Moutier in einer kommunalen Volksabstimmmung 51,7% der Teilnehmenden für den Übertritt zum Kanton Jura aussprachen.
Dort wäre Moutier hinter Delsberg, aber noch vor Pruntrut, die zweitgrösste Stadt des Kantons geworden. Doch diese Abstimmung wurde 2018 von den Berner Behörden für ungültig erklärt. Dies unter anderem, weil einer Handvoll Personen eine unredliche Wohnsitznahme und Stimmabgabe nachgewiesen wurden.
Deshalb tritt nun Moutier am 28. März zum neunten Mal in 71 Jahren zur Frage an, ob es sich als Teil des Kantons Jura verstehen will oder nicht.
Der Artikel wurde am 29. März 2021 mit der Box zum Ausgang der Abstimmung aktualisiert.
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