Kann eine Abstimmung den Jurakonflikt beenden?
35 Jahre nach der Geburt des jüngsten Schweizer Kantons hat sich das Blut in den jurassischen Tälern abgekühlt. Auch wenn die verfeindeten Brüder auf jurassischer und Berner Seite wieder miteinander reden, glaubt niemand wirklich an eine Eingliederung der französischsprachigen Berner in den Kanton Jura.
Moutier, an einem gewöhnlichen Dienstag im Oktober. Es ist 12:30 Uhr, die Strassen im Stadtzentrum sind fast leer. Das kühle und gräuliche Wetter lädt nicht gerade zum Flanieren ein in dieser kleinen Industriestadt mit etwas über 7000 Einwohner vor den Toren des Kantons Jura.
Einzig einige Plakate künden von der kommenden Abstimmung, die einen Prozess anstossen soll, der zur Wiedervereinigung des Juras mit dem Berner Jura in einem einzigen Kanton führen soll. Doch Begeisterung für den Urnengang ist keine zu spüren.
Dreimal war die Bevölkerung der Region in den 1970er-Jahren gefragt worden, ob sie dem Kanton Jura beitreten wolle – dreimal hatte sie «Nein» gesagt, das letzte Mal mit nur ein paar Dutzend Stimmen Unterschied. Moutier vereinigt viele der Konflikte um die Jurafrage auf sich.
Seit 1982 gehört die Mehrheit der Behördenvertreter dem separatistischen Lager an. Stadtpräsident Maxime Zuber, seit 19 Jahren im Amt, ist Mitglied der Autonomen Sozialdemokratischen Partei (Parti Socialiste Autonome du Jura-Sud, PSA), die sich von der Sozialdemokratischen Partei des Berner Juras abgespaltet hat. Diese blieb dem Kanton Bern treu.
1998 haben die Einwohnerinnen und Einwohner von Moutier in einer Konsultativ-Abstimmung erneut mit 48 Stimmen Unterschied «Nein» zu einem Anschluss an den Kanton Jura gesagt.
Sollte am 24. November ein «Non» an den Urnen resultieren – ein Szenario, das von Beobachtern wie auch in Umfragen vorausgesagt wird – könnten die Gemeinden einzeln den Anschluss an den Kanton Jura verlangen. Ein Prozess, den einige «Lex Moutier» getauft haben, massgeschneidert, um die Jurafrage ein für alle Mal ad acta zu legen.
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Ausgeprägtes Desinteresse
Etwas mehr Leben findet man beim Bahnhof, wo die Züge der direkten Linie Basel-Genf halten. Die Hochburg der jurassischen Separatisten, das Hôtel de la Gare, zeigt stolz Flagge. Hier wird man am 24. November unisono ein «Ja» in die Urnen legen.
Gegenüber, im Café de la Gare, sitzt die 35-jähige Sophie Mertenat an einem Tisch. Sie gibt sich keinen Illusionen hin: «Meine Eltern haben sich für die jurassische Sache eingesetzt, für mich ist es daher eine wichtige Frage. Doch der Kanton Jura verleitet nicht mehr zum Träumen. Er vermag nicht mehr so stark zu mobilisieren wie damals. Die Jungen interessieren sich überhaupt nicht für diese Abstimmung.»
In einem anderen Imbiss in Moutier gibt sich der Patron, der seinen Namen nicht in den Medien lesen will, ebenfalls zweifelnd: «Im Kanton Jura hätten wir eine stärkere Stimme», sagt er. «Doch viele hier, und sogar militante Separatisten, befürchten, dass die Stadt ihr Regionalgericht oder ihr Spital verlieren könnte, würde sie dem Kanton Bern die kalte Schulter zeigen. Das wird zur Stunde der Abstimmung entscheidend sein.»
Abflauende Leidenschaft
Das revolutionäre Ideal, das die Schaffung des Kantons Jura 1979 befeuert hatte, sei pragmatischen Argumenten gewichen, bedauern die glühendsten Aktivisten.
Für den 60-jährigen Martial Schweizer hat dieser Ausgleich jedoch auch eine gute Seite: «Seit etwa zwanzig Jahren wurden die Gräben zugeschüttet, und die Leute reden wieder miteinander», sagt der Separatist wenig nostalgisch.
«Jedes Lager hatte seine Läden, seine Restaurants, seine Vereine. Sah man einen Aktivisten auf einen zu kommen, musste man die Strassenseite wechseln. Familien wurden auseinandergerissen, die Atmosphäre war erstickend.»
Martial Schweizer, Moutier
Seit etwa zwanzig Jahren wurden die Gräben zugeschüttet, und die Leute reden wieder miteinander.
Heute sind alle Akteure einhellig der Meinung, dass der Dialog an Gelassenheit gewonnen hat. «Die Leidenschaft ist abgeflacht, seit 1994 und der Einführung der Interjurassischen Versammlung (Assemblée interjurassienne, AIJ), die es geschafft hat, die Gemüter abzukühlen und verfeindete Brüder dazu brachte, wieder zusammen zu reden», schreibt Rémy Chételat, Chefredaktor des Quotidien Jurassien.
«Diese Befriedung erklärt übrigens, warum die jurassische Frage die Leute nicht mehr derart zu entflammen weiss, wie das im letzten Jahrhundert der Fall gewesen ist.»
Doch die Angst, dass die Wunden der Vergangenheit wieder aufreissen könnten, ist in der Bevölkerung immer noch spürbar. «Klar, Moutier wird nicht wieder glühen wie in den 1970er-Jahren, doch wir möchten uns so bald wie möglich wieder anderen Dingen zuwenden», sagt ein Mann in den Fünfzigern, der gerade die Strasse überquert.
Emanuel Gogniat, Generalsekretär der AIJ, stellt eine Diskrepanz zwischen einem Grossteil der Bevölkerung, der sich nicht für diese Abstimmung interessiert, und den Aktivisten fest, «die sich wie zur ersten Stunde engagieren und auf emotionalen und starren Positionen verharren».
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Ein Hauch von Nordirland
Im bernjurassischen Dorf Bévilard, ein Dutzend Kilometer südwestlich von Moutier, betont Marc-Alain Affolter seine «tief verwurzelte Bindung» zum Kanton Bern.
Der Generaldirektor der Affolter Group, die Uhren-Räderwerke und Maschinen herstellt, unterstreicht gleichzeitig den Vorteil, zu einem national bedeutenden, grossen Kanton zu gehören, und das Privileg des speziellen Status, den Bern der Region zugesprochen habe. «Wir fühlen uns sehr wohl in diesem Kanton, warum sollten wir ihn verlassen?»
Ganz anders tönt es nur wenige hundert Meter entfernt, bei der Firma Helios SA. Vincent Charpilloz, der Direktor dieses weiteren Familien-Unternehmens im Dorf, das sich auf die Fabrikation von Einzelteilen für verschiedene Branchen (Uhren, Automobile, Medizin, …) spezialisiert hat, setzt sich für ein «Ja» ein.
«Ein Machtzentrum etwas näher bei uns wäre besser, um unsere Interessen zu vertreten, besonders auch, weil der Kanton Jura und der bernische Südjura wirtschaftlich sehr eng verflochten sind», betont er.
Trotz periodischer Krisen, die bei einer stark von externen Märkten abhängigen Industrie dazugehören, und den Schwierigkeiten, in denen gewisse Unternehmen der Region steckten, habe der Berner Jura in den letzten Jahrzehnten stark an Attraktivität gewonnen, antwortet Affolter.
«Zur Zeit der Abstimmungen war es unmöglich, einen qualifizierten Arbeiter von ausserhalb anzustellen. Der Berner Jura war damals ähnlich pestbefallen wie Nordirland. Zum Glück hat sich das Blatt gewendet und die Perspektive, für weltweit tätige Unternehmen zu arbeiten, vermag die jungen Diplomierten zu verführen.»
Erschliessung der Region
Wir fahren in den Norden, nach Delémont (Delsberg), Hauptstadt des Kantons Jura. Ein Grossteil des Verkehrs bewegt sich unterdessen auf der so genannten Transjurane, jener Autobahn, die Biel im Süden mit Boncourt verbindet, das an der nördlichen Grenze des Kantons Jura mit Frankreich liegt. Das letzte Teilstück dürfte 2016 in Betrieb genommen werden.
Schluchten, Pässe und gewundene Täler des Juras dürften für eilige Autofahrer also bald nur noch eine ferne Erinnerung sein. Die Isolation der Region von Schiene und Strasse, die ein Motor des jurassischen Separatismus war, ist deshalb bei der Abstimmung vom 24. November kein Thema mehr.
Emanuel Gogniat, Generalsekretär Interjurassische Versammlung (AIJ)
Das Sprachen-Argument wird nunmehr von den Antiseparatisten eingesetzt, die unterstreichen, wie wichtig es sei, zu einem grossen zweisprachigen Kanton zu gehören.
Gleiches gilt für die Religion und die Sprache, zwei starke Identifikationsfaktoren, die ebenfalls wichtige Beiträge zur Gründung des Kantons Jura leisteten.
Natürlich wettern ab und zu pro-bernische Veteranen, sei es in öffentlichen Debatten oder in Leserbriefen, gegen den «Anschluss an einen Kanton Jura, der von einer religiösen Partei geführt wird» (die Christlichdemokratische Volkspartei, gegründet als katholische Partei). Doch die Debatten der Parteien sind heute vielmehr politisch als religiös gefärbt.
Was die vehemente Verteidigung des Französischen und die Allergie gegenüber dem Schweizerdeutschen betrifft, die in den Jahren des Kampfs stark zum Ausdruck kamen: die sind beide verschwunden.
«Das Sprachen-Argument hat das Lager gewechselt», sagt, AIJ-Generalsekretär Gogniat. «Es wird nunmehr von den Antiseparatisten eingesetzt. Diese unterstreichen, wie wichtig es sei, zu einem grossen zweisprachigen Kanton zu gehören, der die Rolle einer Brücke zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz spiele.»
Der Kanton Bern ist offiziell zweisprachig, mit einer hohen deutschsprachigen Mehrheit. Etwas weniger als 8% der Einwohnerinnen und Einwohner, also rund 80’000 Personen, sind französischsprachig.
Davon leben 50’000 Personen im Berner Jura. Der Grossteil der restlichen 30’000 Personen lebt in Biel (Bienne), der grössten zweisprachigen Stadt der Schweiz.
Im bernischen Kantonalparlament sind gegenwärtig 16 von 160 Sitzen von Romands besetzt. In der Kantonsregierung (Regierungsrat) hat der Berner Jura einen Sitz garantiert. Wählbar sind nur französischsprachige Personen.
Seit den Wahlen 2011 und der Nicht-Wiederwahl des Nationalrats Jean-Pierre Graber von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ist der Berner Jura nicht mehr im Eidgenössischen Parlament vertreten.
Im Kanton Jura leben etwas über 70’000 Personen. Er ist im Eidgenössischen Parlament mit je zwei Ständeräten und Nationalräten vertreten.
Der Kanton Jura selber hat sich in den letzten Jahren mit der deutschsprachigen Kultur versöhnt, indem er wirtschaftliche Beziehungen mit Basel aufgenommen und zweisprachige Ausbildungsgänge eingeführt hat.
Wenig Hoffnung auf Wiedervereinigung
Im Norden ist praktisch jeder für einen Zusammenschluss mit dem Süden. Die jurassische Erziehungs-, Kultur- und Sportministerin Elisabeth Baume-Schneider rühmt «einen geografisch und sozioökonomisch homogenen Raum, Landschaften, die der Leim der jurassischen Identität sind, geteilte Kompetenzen in der Feinmechanik, häufig identische Meinungen bei den nationalen Abstimmungen und die Existenz von fast 70 interjurassischen Verbänden und Institutionen», wie sie im Journal du Jura zitiert wird.
Auf der Strasse jedoch will sich niemand übertriebenen Hoffnungen hingeben. «Ein grösserer Kanton hätte mehr Gewicht. Doch im Berner Jura gibt es viele Vorurteile gegenüber dem Kanton Jura. Wir werden sie nicht überzeugen können», sagt ein Verkäufer, der anonym bleiben möchte.
Gleiche Skepsis bei einer anderen Person, die wir auf der Place Roland Béguelin in Delémont antreffen, die den Namen des verstorbenen Gründervaters des Kantons Jura trägt. «Die Leute hier fühlen sich nicht wirklich betroffen von dieser Abstimmung. Der Entscheid wird auf der anderen Seite fallen, im Berner Jura. Leider haben sie ihre Meinung schon seit langer Zeit gefasst.»
Am 24. November 2013 stimmen die Bürgerinnen und Bürger des Kantons Jura und des Berner Juras nicht über die Schaffung eines Kantons ab, sondern über die Möglichkeit, einen Prozess anzustossen, der dazu führen könnte.
Mehrere Abstimmungen würden nötig werden, um schliesslich eine Einheit zu schaffen, welche die beiden Regionen zusammenfassen würde.
In der wahrscheinlichsten Hypothese, bei einem «Ja» im Kanton Jura und einem «Nein» im Berner Jura, würde die Jurafrage als geregelt betrachtet und die Idee eines grösseren Kantons Jura wäre vom Tisch.
Die Kantonsregierungen Berns und des Juras haben sich jedoch geeinigt, dass sich jene Gemeinden des Berner Juras, die dies wünschen, dem Kanton Jura anschliessen können.
Die Gemeinden erhalten zwei Jahre Zeit, um eine Abstimmung zu organisieren. Dies betrifft nur Gemeinden des Berner Juras; keine jurassische Gemeinde hat den Wunsch geäussert, sich dem Kanton Bern anzuschliessen.
(Quelle: SDA)
Knapp drei Wochen vor der Abstimmung in der Jurafrage sprechen sich 55% der Bern-Jurassier gegen einen Prozess zur Schaffung eines neuen Kantons aus. Dies ergab eine Umfrage im Auftrag von Radio Télévision Suisse (RTS), die von Le Quotidien Jurassien und Le Journal du Jura am 5. November publiziert wurde. Nur 38% würden ein Ja einlegen. Im Jura würde die Vorlage mit 74% gegen 18% der Stimmen angenommen.
Der Berner Jura könnte allerdings in seiner Meinung gespalten sein, denn Moutier, der Hauptort und die grösste Gemeinde der Region, dürfte das Projekt gutheissen (62% Ja, 31% Nein), während die anderen Gemeinden sich dagegen aussprechen könnten (59% Nein, 34% Ja). Im Jura liegt der Ja-Anteil in der Region Ajoie bei 70% und in den zwei anderen Bezirken bei 75%.
Im Berner Jura zeichnet sich auch ein Links-Rechts-Graben ab: Knapp zwei Drittel der Befragten, die der Rechten oder der Mitte angehören, sind eher für ein Nein, während die Sympathisanten von Linksparteien sich mehrheitlich für die Bildung eines neuen Kantons aussprechen (54% gegen 39%).
(Quelle: rtsinfo.ch)
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
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