Kann Libyen die Erwartungen erfüllen?
Der Entscheid, am 24. Dezember in Libyen freie Wahlen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen abzuhalten, ist ein wichtiger Schritt zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau des Landes. Welche Rolle spielt die Schweiz, und was sind ihre Interessen? Eine Analyse.
Nach dem Sturz des Regimes von Muammar Gaddafi im Jahr 2011 ist Libyen seit 2014 Schauplatz eines Machtkampfs zwischen der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung der Nationalen Einheit (GNA) im Westen des Landes und einer Macht, die der selbsternannte «Marschall» Khalifa Haftar verkörpert – der starke Mann im Osten.
Die Niederlage der von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Ägypten, Russland und Frankreich unterstützten Haftar-Truppen in der «Schlacht von Tripolis» im Juni 2020 gegen die von der Türkei und dem Staat Katar bewaffneten Milizen war ein Wendepunkt im innerlibyschen Konflikt.
Sie führte unter internationalem Druck zu einem Waffenstillstand zwischen den beiden Kriegsparteien, zur Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit und zu einer Vereinbarung über die Durchführung freier Wahlen.
Bedeutende Fortschritte
Die UNO-Übergangsbeauftragte für Libyen, Stephanie Williams, bezeichnet die freien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Dezember 2021 als «erstes konkretes Ergebnis des innerlibyschen Dialogs». Sie sind eine doppelte Herausforderung.
Ziel ist es, eine Internationalisierung des Konflikts zu vermeiden und den Libyerinnen und Libyern eine mögliche Zweiteilung des Landes zu ersparen: im Osten die Cyrenaika, in der sich fast der gesamte Reichtum des Landes konzentriert, im Westen Tripolitanien.
Wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage zog sich das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ab 2014 aus Libyen zurück. Nun will die Schweiz mit der Wiedereröffnung ihrer Botschaft wieder Präsenz in Tripolis zeigen. Das EDA begründet diesen Schritt mit der Vermittlerrolle, welche die Schweiz in Libyen und in der Region im Allgemeinen spielen will.
Bern ist in diesem Bereich sehr aktiv: Es unterstützt den UNO-Friedensprozess und hat den Co-Vorsitz der Arbeitsgruppe zum humanitären Völkerrecht und zu den Menschenrechten im Rahmen des Berlin-Prozesses für Libyen.
Aussenminister Ignazio Cassis nahm im Juni an der zweiten Libyen-Konferenz in der deutschen Hauptstadt teil. Bern leistet auch humanitäre Hilfe für gefährdete Migrantinnen und Migranten.
Obwohl der Wüstenstaat in den letzten Jahren als Öllieferant für die Schweiz immer mehr an Bedeutung verloren hat, ist Libyen nach wie vor ein wichtiges Transitland für die Migration nach Europa. Die Bedingungen in den libyschen Lagern sind prekär. Auch die Route über das Mittelmeer bleibt für die Schweiz ein heikles Thema.
Vor dem Sturz des Diktators Muammar Gaddafi hatten die schweizerisch-libyschen Beziehungen schwierige Momente erlebt. Der Höhepunkt der Spannungen wurde 2008 erreicht, als die Schweizer Botschaft in Tripolis von Schergen des libyschen Regimes umstellt wurde, die den Schweizer Max Göldi und den tunesisch-schweizerischen Doppelbürger Rachid Hamdani monatelang als Geiseln hielten.
Seit dem Abschluss dieses Abkommens wurden wichtige Schritte unternommen. Auf internationaler Ebene fand am 23. Juni 2021 die zweite Berliner Libyen-Konferenz statt. Dieser von Deutschland initiierte Prozess soll die Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen zur Lösung des Konflikts in dem nordafrikanischen Staat unterstützen.
Ziel der Konferenz war es, die erzielten Fortschritte zu erhalten und die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für eine nachhaltige Stabilisierung des Landes zu konsolidieren.
Sie befasste sich mit drei wichtigen Themen: der Umsetzung des vom libyschen Forum für politischen Dialog angenommenen Fahrplans für die Abhaltung nationaler Wahlen bis Ende des Jahres, der baldigen Annahme eines rechtlichen Rahmens für die Wahlen und der vollständigen Umsetzung des Waffenstillstands-Abkommens vom Oktober 2020, einschliesslich des Rückzugs ausländischer Kämpfer.
Wichtige Meilensteine sind die Unterzeichnung des Waffenstillstands-Abkommens in Genf am 23. Oktober 2020, der Beginn der Wiedervereinigung der staatlichen Institutionen und die Bildung der Regierung der nationalen Einheit im März 2021.
Schweiz voll engagiert
Die Schweiz hatte den Status eines Gastlands für die politischen Prozesse der UNO. Sie nahm auch an Berlin 1 und Berlin 2 teil. Bern engagiert sich für den Prozess der Befriedung und Stabilisierung in Libyen.
«Die Stabilität Libyens und seine wirtschaftliche Entwicklung liegen im direkten Interesse der Schweiz», sagt ein Sprecher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gegenüber SWI swissinfo.ch.
Seit 2020 hat Genf gemeinsam mit Amsterdam den Vorsitz der Arbeitsgruppe für humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte im Rahmen des Berliner Prozesses für Libyen inne. Diese Gruppe befasst sich speziell mit Fragen im Zusammenhang mit dem Schutz der Zivilbevölkerung, dem humanitären Zugang und der Förderung des Völkerrechts.
Zudem ist das Engagement für den Friedensprozess und die Stabilisierung Libyens in der aussenpolitischen Strategie 2021-2024 des Bundesrats für die Region Naher Osten und Nordafrika (MENA) als «Priorität» aufgeführt.
Konkret setzt die MENA-Strategie drei Schwerpunkte für das Engagement der Schweiz in Libyen: Frieden, Sicherheit und Menschenrechte, Migration und Schutz von Menschen in Not (Migrantinnen und Migranten, usw.) sowie nachhaltige Entwicklung.
Aus wirtschaftlicher Sicht ist der Wiederaufbau Libyens für Schweizer Unternehmen von grossem Interesse: Die Weltbank schätzt die Gesamtkosten dafür bei einer Laufzeit von zehn Jahren auf 200 Milliarden Dollar.
Die Schweiz hat in den letzten drei Jahren rund 23,3 Millionen Franken in Libyen investiert, und zwar wie folgt:
- Migration: 3 Mio.
- Friedensförderung und Menschenrechte: 5,7 Mio.
- Humanitäre Hilfe: 14,6 Mio.
Die Projekte, die im Rahmen der humanitären Hilfe in diesem Land durch die Schweiz unterstützt werden, richten sich an die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, ausdrücklich in den Randgebieten des Landes. Im südöstlichen Kufra wird zum Beispiel ein Projekt durchgeführt, das den Zugang zu Gesundheitsdiensten in einer Region ermöglicht, die fast keine internationale Hilfe erhält.
Die Massnahmen basieren auf einem integrierten Ansatz, der die Bereitstellung umfassender medizinischer Grundversorgung, psychosozialer Unterstützung, Hilfe bei der Wasserversorgung, Hygiene und Abwasserentsorgung vorsieht sowie Schutzmassnahmen zur Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Zielgruppen. Die Massnahme wurde vor kurzem angepasst und umfasst nun auch eine Impfkampagne gegen Covid-19 für die Bevölkerung.
Im Bereich der Migration unterstützt die Schweiz die Arbeit der UNO-Sonderorganisationen zugunsten von Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen. Dies geschieht auf der Ebene des Schutzes und der Hilfe für die am meisten gefährdeten Menschen, auf der Ebene der Stärkung der Migrationssteuerung sowie durch Sensibilisierung für die Risiken und Alternativen der irregulären Migration. Darüber hinaus wird der soziale Zusammenhalt zwischen Migrantinnen und Migranten, Aufnahmegemeinschaften und lokalen Behörden gestärkt.
(Quelle: EDA)
Illegale Migration, ein heisses Thema
Darüber hinaus ist die Schweiz, die als Referenz im Bereich des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte gilt, besonders um den Schutz von schutzbedürftigen und in Not geratenen Personen bemüht: Gefangene, Migrantinnen und Migranten, usw.
Die ohnehin schon schlimmen Bedingungen für Migrantinnen und Migranten haben sich nach dem Waffenstillstand besonders verschärft. In einem am 15. Juli 2021 von Amnesty International veröffentlichten Bericht heisst es, dass Migrantinnen und Migranten aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara mit einer «Zunahme von Gewalt und Entführungen durch Menschenhändler» konfrontiert sind.
Letztere, die durch den Krieg ihre Einkünfte verloren haben, benutzen Migrantinnen und Migranten, um sie zu erpressen und auf diese Weise neue finanzielle Quellen zu erschliessen, heisst es in dem Dokument.
Hassan Boubakri, ein tunesischer Spezialist für Migrationsfragen, weist darauf hin, dass kriminelle Schleuser- und Menschenhandels-Netze in den Jahren 2011 bis 2020 Hunderttausende afrikanische Migrantinnen und Migranten hauptsächlich nach Libyen und dann nach Europa gebracht haben.
«Die Migrations- und Asylkrise im Mittelmeerraum zwischen 2014 und 2018 steht in direktem Zusammenhang mit den Folgen des libyschen und syrischen Bürgerkriegs», sagt er.
Terroristische Anschläge und die wachsende Unsicherheit in den Ländern der Sahelzone sowie deren destabilisierenden Auswirkungen auf die Sicherheit und das Überleben der lokalen Gemeinschaften sind weitere Faktoren, welche die Migrationsströme in die nordafrikanischen Länder und dann nach Europa anheizen.
Boubakri stellt fest, dass die nordafrikanischen Länder ihrerseits zu Zielländern für Migrantinnen und Migranten aus Ländern südlich der Sahara geworden sind, weil sie nicht auf legalem Weg nach Europa einreisen können oder von den Sicherheitskräften und der Küstenwache der Länder in der Region an der Überquerung des Mittelmeers gehindert werden – Massnahmen, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten finanziert und stark unterstützt werden. Sie lassen sich dort nieder, während sie ihre weitere Flucht planen.
Echte Erfolgschancen
Abgesehen von den Fortschritten und Auswirkungen von Berlin 2 stellt sich die Frage, ob die Wahlen im Dezember 2021 erfolgreich sein werden. Und vor allem, ob alle Konfliktparteien deren Ergebnisse akzeptieren werden.
Der Politikwissenschaftler Mostafa Rahab, der am libyschen Zentrum für strategische Studien in Tripolis forscht, ist zuversichtlich, dass die Wahlen zu dem von der Dialogkommission festgelegten Termin stattfinden werden.
Er begründet seinen Optimismus mit drei Faktoren: erstens sei dieser Termin von den Vereinten Nationen festgelegt und von Berlin 2 einstimmig bestätigt worden; zweitens würden die Vereinten Nationen Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten, die versuchen, den Wahlprozess zu torpedieren, mit individuellen und kollektiven Sanktionen drohen; und drittens hätten die Libyerinnen und Libyer im Allgemeinen die Nase voll von den Konflikten und seien entschlossen, an die Urnen zu gehen – unabhängig davon, wer gewinne.
Mohamed Eljarih, ein libyscher Forscher am Rafik-Hariri-Institut in Beirut, ist skeptischer. Er sieht in der Umklammerung des Landes durch extremistische Gruppen ein grosses Hindernis für die Durchführung der Wahlen am 24. Dezember.
Schlimmer noch, die Milizen, die nach Angaben der UNO zwischen 20’000 und 30’000 Kämpfer zählen, stünden immer noch nicht unter der Kontrolle des Präsidenten des Interimspräsidenten-Rats, Abdel Hamid Dbeibah.
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