Kann Schweizer Geheimdienst Ohren noch mehr spitzen?
Die Pläne, dem Nachrichtendienst mehr Macht zu verleihen, könnten im Parlament nächste Woche eine erste Hürde nehmen. Die Gegner warnen vor einer Generalklausel, welche die Bürgerrechte verletzen würde und keine verfassungsrechtliche Grundlage hätte.
Als Verteidigungsminister Ueli Maurer vor 12 Monaten die Vorlage der Regierung präsentierte, versicherte er, dass es nicht darum gehe, unerschöpfliche Massnahmen zur Überwachung der Bürger einzuführen, sondern um die Güterabwägung zwischen Sicherheit und individueller Freiheit.
Gemäss der vorgeschlagenen Reform sollen die Agenten des Nachrichtendiensts Telefongespräche abhören, in Computer eindringen sowie private Räume verwanzen dürfen, um terroristische Angriffe und Spionageaktivitäten zu verhindern.
Anfängliche Kritik – vor allem von derder politischen Linken – an der Gesetzesänderung scheint von der Mitte-Rechts-Mehrheit im Parlament wie weggefegt worden zu sein, trotz der Empörung nach den Enthüllungen von Edward Snowden um die grossflächigen Überwachungsaktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA.
Im Schweizer Parlament hatte die Sicherheitskommission der Grossen Kammer der Vorlage mit einer überwältigenden Mehrheit zugestimmt, noch vor den Anschlägen islamistischer Extremisten in Europa zu Beginn des Jahres.
Jakob Bücher, Mitglied der Kommission, ist überzeugt, dass eine verstärkte Überwachung die richtige Antwort ist. «Nur so können wir mit den anderen Geheimdiensten auf Augenhöhe zusammenarbeiten und damit Volk und Land schützen.»
Systemwandel
Indes, einige renommierte Rechtsexperten haben grosse Vorbehalte. Für Rainer Schweizer, Rechtsprofessor an der Universität St. Gallen, würde die Vorlage einen fundamentalen Systemwandel bringen. «Der Schweizer Nachrichtendienst könnte zum ersten Mal in seiner Geschichte aufgrund einer vermuteten Gefährdung Bürger abhören. Es wäre nicht einmal erforderlich, einen begründeten Verdacht nachzuweisen», sagt er.
Die Bürger hätten keinen Anspruch auf Rechtsschutz oder auf einen Zugang zu Informationen über mögliche verdeckte Ermittlungen gegen sie selbst. Das steht laut Schweizer im Widerspruch zu den europäischen Menschenrechten.
Schweizer ist ausserdem besorgt, dass Terroristen wegen der unklaren Verfahren zwischen Nachrichtendienst und Justizbehörden letztlich einer Verhaftung entkommen könnten.
Er fordert dazu auf, die Debatte im Parlament aufzuschieben, bis präzise Vorschriften vorliegen.
Zahlen und Fakten
Bei der Vorlage, über welche in der Grossen Kammer debattiert wird, geht es im Wesentlichen um die Kompetenzen des Nachrichtendiensts des Bundes.
Im Verlauf des Jahres könnte das Parlament auch über ein separates Gesetz zur Telekommunikations-Überwachung beraten.
Jenseits der Staatssicherheit
Rechtsexperte Markus Mohler, ehemaliger Dozent an den Universitäten Basel und St. Gallen, ist der Meinung, dass dem Nachrichtendienst für den Schutz vor terroristischen Angriffen zusätzliche Mittel eingeräumt werden müssen, um zu verhindern, dass ausländische Geheimdienste illegale Aktivitäten auf Schweizer Territorium auszuüben beginnen. Aber die Kompetenzen, die der Regierung zugestanden würden, reichen laut Mohler weit über eine Erhöhung der Staatssicherheit hinaus. «Es gibt dafür nicht einmal die unverzichtbare Verfassungsgrundlage.»
Mohler, der auch Staatsanwalt und Polizeikommandant sowie Regierungsberater war, ist der Meinung, dass die Staatsagenten sogar noch mehr Kompetenzen zugesprochen erhielten als die Strafverfolgungsbehörden.
Die Zusicherung der Regierung, dass die Abhöraktionen von einem Richter des Bundesverwaltungsgerichts und vom Verteidigungsminister gutgeheissen werden müssten, genügen Mohler nicht. «Mit dem geplanten Gesetz kippt die Balance von Freiheit und Sicherheit. Das geht so nicht.»
Um Missbräuche zu minimieren, schlägt er stattdessen für Eingriffe in die Privatsphäre die Einsetzung eines richterlichen Dreiergremiums vor.
Vergleich
Die beiden Experten sind sich einig, dass es in der Schweiz einer geplanten Abhör-Aktion an der erforderlichen Effizienz fehle, zumal rund die Hälfte der Kontakte via Kabel über Server laufen, auf welche die Schweizer Behörden keinen Zugriff hätten.
Auch wenn die Änderungsanträge die Zustimmung beider Parlamentskammern erhalten sollten, wären die Bürgerrechte in der Schweiz, namentlich die Vorschriften über die Privatsphäre, im Vergleich zu jenen der USA, Grossbritanniens oder Frankreichs immer noch besser vor Eingriffen der Geheimdienste geschützt, sagt Mohler.
Rainer Schweizer sieht das etwas anders: «Wenn es um den Zugang zu geheim beschafften Daten geht, hätten die Leute in der Schweiz weniger Rechte als zum Beispiel in den USA oder in Deutschland», sagt er.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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