Kantone: Autonomie oder Zusammenarbeit?
Die Schweiz ist stolz auf ihr föderales System, welches zu ihrer "Einheit in Vielfalt" beiträgt. Die Kantone hüten ihre Autonomie mit Argusaugen. Doch das System steht vor Herausforderungen, weil sich die Gesellschaft immer mehr wandelt und mehr Synergien nötig sind. So auch bei der Polizei.
Die kantonale Souveränität über die Polizei ist in der Schweizer Bundesverfassung festgeschrieben; 26 Kantone und Halbkantone, 26 Polizeivorsteher, 26 Polizeichefs.
«Das mag im 21. Jahrhundert etwas unpassend erscheinen, doch das System hat sich bewährt», sagt Christophe Koller vom Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (IDHEAP), Projektleiter von BADAC, einer Datenbank für Schweizer Kantone und Städte.
Roger Schneeberger, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD), ergänzt: «Im Schweizer System agieren die Kantone wie unabhängige Staaten, die in einem Staatenbund zusammengekommen sind.» In der KKJPD sind die für die Sicherheit zuständigen Regierungsräte aller Kantone zusammengeschlossen.
Während es sinnvoll war, gewisse Kompetenzen dem Bund zu überlassen, sei entschieden worden, dass Bereiche wie die Polizei besser auf lokaler Ebene gehandhabt würden, so Schneeberger.
Der Zentralschweizer Kanton Uri beispielsweise hat keine grossen Städte. Rotlicht-Bezirke, organisierter Drogenhandel und Hooliganismus sind dort keine grossen Probleme. Andererseits liegt der Kanton an einer Hauptverkehrsachse: Auf seinem Territorium befinden sich die Gotthard-Nordportale des Autobahn- und des Eisenbahntunnels. Daher braucht Uri mehr Verkehrs- als Kriminalpolizei.
Ein Grenzkanton wie etwa Basel-Stadt hat offensichtlich ganz andere Probleme. «Das ist der Grund, warum die Polizei auf kantonaler Ebene geregelt ist», sagt Schneeberger. «So kann jeder Kanton die Polizeitruppe zusammenstellen, die er braucht.»
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Die Mehrheit hat immer Recht – oder nicht
Konkordate
Schön und gut, doch manchmal verfügt ein Kanton nicht über die Mittel, um mit gewissen Umständen umzugehen. Als Beispiel gibt Schneeberger die Polizeiarbeit um ein internationales Fussballturnier, das über die Grenzen hinweg stattfindet.
Daher haben die einzelnen Polizeitruppen eine Anzahl Abkommen oder Konkordate unterzeichnet, um die genauen Mechanismen der Zusammenarbeit festzulegen. Ist dies einmal getan, müssen diese jeweils vom kantonalen Parlament gutgeheissen werden, bevor sie zum Gesetz werden. Einige sind in allen 26 Kantonen angenommen worden, andere nur in ein paar.
Laut Koller ist man nicht immer einer Meinung, wie gut die Arbeit im Polizeikonkordat funktioniert – Regierungsräte, kantonale Parlamente, Polizeichefs und die Polizisten selber machten sich alle ihre eigenen Überlegungen.
Schneeberger sieht die Sache positiver. «Ich kann nicht sagen, dass die KKJPD jedes Mal eine Lösung finden kann, wenn es Probleme gibt; es gibt verschiedene Gesichtspunkte. Manchmal gibt es Konkordate, von denen wir hoffen, dass alle Kantone sie unterzeichnen, doch einige lehnen sie ab. Es ist aber besser, Lösungen zu suchen als nichts zu tun.»
Im Jahr 2000 wurden die polizeilichen Aufgaben des Bundes im Bundesamt für Polizei konzentriert.
Es beschäftigt über 870 Mitarbeitende und hat seinen Hauptsitz in Bern.
Dem Fedpol sind verschiedene Organisationen unterstellt, so etwa die Bundeskriminalpolizei (BKP), der Bundessicherheitsdienst (BSD), die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (KOBIK) oder die Meldestelle für Geldwäscherei (MROS).
Das Fedpol unterstützt und koordiniert auch Untersuchungen und Informationsaustausch mit anderen relevanten Organisationen – in der Schweiz und im Ausland.
(Quelle: Fedpol)
Interkantonaler Zusammenschluss
Nun haben die beiden kleinsten Kantone in der französischsprachigen Westschweiz, Jura und Neuenburg, ein Projekt lanciert: Sie wollen eine gemeinsame Polizeitruppe mit 600 Personen aufbauen – etwa der Durchschnitt der Polizeitruppen der Kantone in der Romandie.
Olivier Guéniat, Polizeichef des Kantons Jura, beschreibt das Projekt als «Win-Win-Situation»: Einige Stellen könnten zusammengelegt werden, was Personal für operative Aufgaben freimachen würde, ohne die Kosten ansteigen zu lassen.
Die Bevölkerung wolle die Polizeipräsenz wahrnehmen und sich vergewissern können, dass diese bei Notrufen schnell vor Ort sei, betont er. Guéniat ist sich bewusst, dass einige Leute politische Einwände dagegen haben könnten, weil der Kanton eine seiner autonomen Aufgaben aufgeben würde. Doch wäre eine solche Kritik seiner Meinung nach fehl am Platz.
«Ich glaube, Parlamentsmitglieder stellen fest, dass die Regionalisierung angesichts von Kriminellen, die sich einen Deut um Grenzen kümmern, Sinn macht.»
Sein Kollege in Neuenburg, Pascal Luthi, erklärt, es werde eine komplett neue Institution geschaffen, in der beide Kantone gleichwertig vertreten sein würden, um die interkantonale Polizeitruppe zu betreuen. Der neue Polizeichef soll dieser unterstellt sein. Auf politischer Ebene hingegen soll laut Luthi jeder Kanton seinen Polizeivorsteher behalten.
«Die Idee ist, die Werkzeuge zusammenzuschmieden, nicht aber die Kantone zu zwingen, die gleiche Politik zu verfolgen. Auch wenn man sich vorstellen kann, dass es ein Problem sein könnte, wenn sie ganz unterschiedliche Wege gehen würden.»
Beide Polizeichefs betonen, eine gemeinsame Truppe würde den Kampf gegen schwere Kriminalität vereinfachen und die Flexibilität erhöhen. Im Kanton Jura beispielsweise, wo die Truppe aus lediglich 130 Personen besteht, ist oft eine einzige Person für eine gewisse Aufgabe zuständig. Ist sie krank, kümmert sich niemand mehr darum. Kleine Spezialeinheiten sind personalintensiv. Werde das Team aus zwei Kantonen gebildet und diene es beiden, sei das viel effizienter.
Aber über sensible Bereiche wie Verkehr und Öffentlichkeitsarbeit sollte weiterhin lokal entschieden werden, betont Luthi.
Jeder Kanton hat seine eigene, unabhängige Polizeitruppe.
In einigen Kantonen gibt es lediglich eine Polizei-Ebene (Kantonspolizei). Dazu gehört der Grossteil der kleinen Kantone, aber auch Bern.
15 Kantone haben eine kantonale und Stadt- oder Gemeindepolizei. Im Kanton Zürich beispielsweise haben grössere Städte ihre eigene Stadtpolizei.
Andere Kantone haben die Verantwortung für die Polizei teilweise den Gemeinden übertragen.
Die Polizeichefs sind in einem Mantelverband organisiert, der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandanten der Schweiz (KKPKS).
Jeder Kanton hat einen Regierungsrat, der für die Polizei zuständig ist. auch diese sind in einem Mantelverband organisiert, der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren KKJPD.
Der Weg in die Zukunft?
Der Zusammenschluss ist erst in Vorbereitung. Die beiden kantonalen Regierungen haben darauf bestanden, dass die Parlamente das Thema diskutieren sollten, bevor Kredite für eine Umsetzungs-Studie gesprochen werden. «Sollten die Parlamente nicht interessiert sein, ist dies das Ende des Projekts», sagt Guéniat.
Der Teufel stecke im Detail, gibt er zu. «Wir werden diskutieren müssen, wie die Organisation funktionieren soll, wo die Truppe basiert sein soll. Das wird zu vielen Emotionen führen.»
Findet das Projekt bei den Parlamenten Gehör, wird das Stimmvolk der beiden Kantone frühestens 2015 an die Urnen gerufen. Und dann braucht es wohl viel Zeit zur Umsetzung.
Könnte das Projekt zu einem Musterbeispiel für andere Kantone werden? «Alle in der Schweiz sind gegenwärtig der Meinung, man müsse viel enger zusammenarbeiten und zwischen Polizeitruppen bestünden eine Menge Synergien», sagt Luthi.
«Ich weiss, dass die kleinen Zentralschweizer Kantone uns mit viel Interesse beobachten. Vor etwa zehn Jahren gab es einen Plan für den Zusammenschluss der Polizei in der Zentralschweiz, aus dem nichts wurde. Ich glaube aber, viele Leute sind immer noch überzeugt, dass es für sie eine Chance sein könnte.»
Wenn er eine Generation weiter nach vorne schauen könnte, so Luthi, «wäre eine einzige Polizeitruppe für die gesamte französischsprachige Schweiz keine absurde Idee. Doch das steht nicht auf der Agenda».
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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