Katastrophe in Japan entfacht Atomstreit neu
Während Sozialdemokraten und Grüne eine rasche Abkehr von der Atomenergie fordern, wollen die Mitte-Parteien erst eine Abklärung. Die Rechte verteidigt die nukleare Option. Trotz der Katastrophe sind vom Parlament keine sofortigen Änderungen zu erwarten.
Die Debatte über die Zukunft der Atomenergie in der Schweiz sollte einer der Höhepunkte der nächsten Legislaturperiode werden. Das Parlament hätte schon zu Beginn über den Bau von drei neuen Kernkraftwerken entscheiden sollen. Diese hätten die fünf bisherigen ersetzen sollen, deren Betriebslaufzeit in den nächsten Jahren ausläuft. Weiter war eine Volksabstimmung für das Jahr 2013 oder 2014 geplant.
Wegen der Reaktorkatastrophe in Japan ist die Debatte um die Kernkraft aber bereits jetzt entbrannt. Sozialdemokraten und Grüne fordern für Juni eine Sondersession des Parlaments, um die eingereichten Motionen, Interpellationen und Initiativen behandeln zu können. In ihren Augen sind die von der Regierung angekündigten Massnahmen keine adäquate Reaktion auf die Ereignisse des 11. März.
Am Montag hatte Doris Leuthard, die Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), angekündigt, das Bewilligungsverfahren für neue Kernkraftwerke zu sistieren, damit das Genehmigungs-Verfahren der neuen Ausgangslage angepasst werden könnte.
Risiken auch in der Schweiz
«Doris Leuthard hat erklärt, die öffentliche Sicherheit habe absolute Priorität. Nun muss sie diese schönen Worte in die Tat umsetzen: Die Regierung sollte dem Beispiel Deutschlands folgen, das bereits beschlossen hat, die älteren Atomkraftwerke abzuschalten», sagt Nationalrat Christian Van Singer von der Grünen Partei der Schweiz.
Grüne und Sozialdemokraten verlangen deshalb, dass spätestens 2012 die Stecker in den Kernkraftwerken Mühleberg sowie Beznau I und Beznau II gezogen werden.
«Auch wenn wir in der Schweiz keinen Tsunami befürchten müssen, laufen wir Gefahr, von Erdbeben, Überschwemmungen oder Orkanen heimgesucht zu werden. Und technische Pannen können niemals ganz ausgeschlossen werden», so Van Singer.
Nach Ansicht der Grünen und Sozialdemokraten wäre diese Massnahme ohne negative Auswirkungen auf die Stromversorgung möglich. «In Deutschland wurden vier Kraftwerke abgeschaltet, und niemand hat etwas davon gespürt. Vergessen wir auch nicht, dass Europa derzeit zu viel Strom produziert. Strom ist nicht nur Energie sondern auch eine Möglichkeit, Geld zu verdienen», sagt Geri Müller, Vizepräsident der Grünen.
Projekte auf Eis gelegt
«Die drei alten Kraftwerke liefern nur 8000 der 26’000 Gigawattstunden (GWh) Strom, den die fünf Anlagen produzieren. Sie gehören also nicht zu den wichtigsten Stromproduzenten. Die bis heute eingereichten Projekte mit erneuerbaren Energien könnten die Stromproduktion um voraussichtlich 9000 GWh erhöhen», sagt der sozialdemokratische Nationalrat Eric Nussbaumer.
«Leider befinden sich diese Projekte auf einer Warteliste, da die derzeitigen Rechtsvorschriften Investitionen in erneuerbare Energien behindern. Wir setzen uns daher ein für eine möglichst rasche Änderung der entsprechenden gesetzlichen Grundlagen», sagt Nussbaumer. Er weist auf mehrere Studien hin, laut denen mit Photovoltaik 30 bis 35% der benötigten elektrischen Energie aufgebracht werden könnte.
Weiter könnte mit einem guten Energieeffizienz-Programm 15% elektrische Energie eingespart werden, sagen Grüne und Sozialdemokraten. Dies wäre genug, um mit der Zeit auch beide neueren Atomkraftwerke (Leibstadt und Gösgen) zu ersetzen. Die zwei Parteien haben die Regierung deshalb aufgefordert, ein Gesetz zum Ausstieg aus der Atomenergie auszuarbeiten.
Keine übereilten Entscheidungen
Während die Linke ihre Offensive lanciert hat, befinden sich die Parteien der Mitte in der Defensive. Sie verlangen vom Bundesrat Abklärungen. «Der 11. März hat unsere Energiepolitik in Frage gestellt. Wir verlangen Untersuchungen zur Sicherheit der bestehenden Anlagen, zu den Garantien im Fall einer Konzessions-Verlängerung sowie über Kosten und Alternativen bei einem Ausstieg aus der Kernenergie», sagt Pirmin Bischof, Nationalrat der Christlich-demokratischen Volkspartei (CVP).
Diese Anliegen hat die CVP-Fraktion mit einem Postulat an die Regierung übermittelt. Die Zentrumspartei ist bereit, jede Option zu überprüfen. Bevor keine klaren Antworten vorlägen, sollten deshalb keine übereilten Entscheidungen getroffen werden. Auf diesen Standpunkt stellt sich auch die FDP.Die Liberalen.
«Wir müssen uns einen mittel- bis langfristigen Ausstieg aus der Kernenergie überlegen. Aber wir müssen wissen, was es braucht, um 40% der Stromproduktion zu ersetzen, insbesondere, da wir keinen Atomstrom aus Nachbarländern importieren wollen. Und wir müssen die Alternativen kennen. Denn genau jene, die stets auf einen Ausstieg aus der Kernenergie drängen, sind dieselben, die ständig aus ökologischen Gründen Einspruch gegen neue Wasserkraftwerke oder Windparks erheben», sagt FDP-Ständerat Rolf Büttiker.
Unvergleichbare Situation
Auf der rechten Seite beharrt die Schweizerische Volkspartei (SVP) auf ihrem Pro-Atom-Kurs. «Es ist immer noch schwierig zu beurteilen, was am 11. März passiert ist, was die Folgen sein werden für Japan und für uns. Die Schweiz ist kein Land, das durch solche Erdbeben gefährdet ist. Sie wird auch nicht von einem Tsunami heimgesucht werden. Davon bin ich weiterhin überzeugt. Unsere Situation ist daher nicht mit jener in Japan vergleichbar», sagt SVP-Parlamentarier Hans Killer.
«Wir sind für jede zusätzliche Überprüfung, aber wir haben keinen Grund zu glauben, unsere Kraftwerke seien jetzt weniger sicher und für die nächsten Jahre keine Alternative. Atomkraft wird in den nächsten 20 bis 30 Jahren noch benötigt um eine angemessene Stromversorgung des Landes zu gewährleisten.»
In einer nicht repräsentativen Online-Umfrage von swissinfo.ch votierten über zwei Drittel der Teilnehmenden für einen Ausstieg aus der Atomenergie.
Über 520 Personen sagen bisher «Ja» zu einem Ausstieg, 160 sagten «Nein». 22 Personen hatten keine Meinung.
1979 lehnen 51,2% des Stimmvolks eine Initiative ab, die für jedes Kernkraftwerk-Projekt eine Abstimmung in Dörfern und Kantonen verlangte, die sich in einem Umkreis von 30 km von der Anlage befinden.
1984 – die Volksinitiative «Für eine Zukunft ohne Kernenergie wird von 55,0% der Schweizer abgelehnt.
1990 – vier Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – genehmigt das Stimmvolk mit 54,5% Ja, eine Initiative für ein Moratorium von 10 Jahren für den Bau oder die Zulassung neuer Kernkraftwerke. Dagegen sprechen sich 52,9% der Wähler gegen die Initiative «Für einen Ausstieg aus der Kernenergie» aus.
2000 – Die Schweizer lehnen drei Vorschläge zur Förderung von Projekten auf Basis erneuerbarer Energien ab, die durch die Erhebung von Steuern auf fossilen Brennstoffe hätten finanziert werden sollen.
2003 – 66,8% der abgegebenen Stimmen lehnen die Volksinitiative für die schrittweise Stilllegung der Atomkraftwerke ab. 58,4% weisen auch die Initiative für eine erneute Verlängerung des Moratoriums für den Bau neuer Kernkraftwerke um 10 Jahre zurück.
2011 – 51,2% der Wähler des Kantons Bern sprachen sich im Februar in einer Konsultativ-Abstimmung für ein neues Kernkraftwerk Mühleberg aus.
Übertragung aus dem Italienischen: Etienne Strebel
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch