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Katastrophenhilfe als Politikum

Im Trainingszentrum in Epeisses im Kanton Genf lernen Soldaten der Schweizer Armee den Einsatz nach einem Erdbeben unter realen Bedingungen. swissinfo.ch

Die Unterstützung der Katastrophendienste ist eine der Hauptaufgaben der modernen Schweizer Armee. Doch vom Parlament vorgeschlagene Sparmassnahmen und eine Volksabstimmung, die den obligatorischen Wehrdienst abschaffen will, drängen die Milizarmee in die Defensive.

In der Mittagshitze gleicht das Trainingsgelände in Epeisses bei Genf einer Geisterstadt. Überall liegen grosse Schutthaufen und Beton herum. Gebäude stehen schief, ihre Böden sind aufeinander gefallen und erinnern an die Schichten eines Sandwichs. Hier trainieren Soldaten der Schweizer Armee Erdbeben-Rettungstechniken.

Die mehreren tausend Rettungs- und Geniesoldaten der Armee arbeiten primär innerhalb der Schweizer Grenzen. Sie werden eingesetzt, wenn lokale und kantonale Zivil-Organisationen (Polizei, Feuerwehr, Sanitätsdienste) überlastet sind und beim Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) offiziell um militärische Hilfe anfragen.

Dies geschieht nicht oft. Laut Oberst Stefan Christen, Kommandant der Rettungsunteroffiziers- und Rekrutenschule, kommt es aufs Jahr an: «2005 hatten wir grosse Überflutungen. Im gleichen Jahr gab es viele Waldbrände. In einem anderen Jahr hatten wir überhaupt nichts. Im Durchschnitt leisten wir einen bis drei Einsätze pro Jahr.»

Die Armee bestätigt, dass 2012, in einem Jahr ohne nennenswerte Naturkatastrophen, lediglich 54 Diensttage für Katastrophenhilfe eingesetzt wurden.

2004: Deckeneinsturz einer Tiefgarage in Gretzenbach, Kanton Solothurn

2005: Überflutungen im Kanton Bern

2007: Waldbrand im Kanton Wallis

2009: Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Indonesien

2013 (April): Erdrutsche in Domat Ems, Kanton Graubünden

2013 (Juni): Unwetter in Biel, Kanton Bern

(Quelle: Rettungsunteroffiziers- und Rekrutenschule 75)

Ein Job für Zivilisten?

In den Augen von Nikolai Prawdzic, Sprecher der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), ist der kleine Anteil der Zeit, welche die Armee für die Katastrophenhilfe aufwendet, nicht genug, um deren Existenz zu rechtfertigen. «Im Grunde sind wir der Meinung, dass dies eine zivile Aufgabe ist und daher auch einen zivilen Anstrich haben sollte», sagt er.

Die armeekritische Gruppe hat die Volksinitiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht» lanciert, über die das Stimmvolk im September abstimmen wird.

Tatsächlich zeigte 2007 eine Umfrage der Europäischen Kommission bei Zivilschutz-Behörden in 32 Ländern, die damals zum «Zivilschutz-Mechanismus der Europäischen Union» gehörten, dass der Bevölkerungsschutz  in den meisten Ländern (18) vom Innenministerium und nur in drei Ländern vom Verteidigungsministerium beaufsichtigt wird.

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Wehrpflicht – alter Zopf oder Erfolgsmodell?

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Gut ausgerüstet

In der Schweiz werden die ersten Einsätze bei einer Katastrophe von lokalen und kantonalen Behörden koordiniert, die ihrerseits vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz  überwacht werden.

2004 schuf der Bundesrat (Landesregierung) die «Katastrophenhilfe Bereitschaftskompanie», zusammengesetzt aus Soldaten der Rettungs- und der Genietruppen, die innert Stunden im Einsatz stehen kann.

Und jedes Jahr werden aus rund 20’000 neuen Rekruten der Armee etwa 1200 ausgewählt, die ihren Militärdienst in Kompanien der Katastrophenhilfe leisten.

Diese Truppen haben beeindruckendes Material zur Verfügung: Sägen, Generatoren, Flutlicht-Anlagen; Kompressoren, die in Sekunden bis zu 40 Tonnen anheben können; CO2-Laser, die in wenigen Minuten Eisenbahnschwellen aus Stahl durchtrennen können; Schläuche mit 15 cm Durchmesser; Pumpen, die bis zu 4250 Liter Flüssigkeit pro Minute absaugen können; Bohrer, die Löcher mit einem Durchmesser von 70 cm in Betonwände fräsen können; und Kameras, die in eingestürzte Häuser heruntergelassen werden können, um Bilder eingeschlossener Opfer zu sehen. Nicht zu vergessen Panzer, Helikopter, Boote, Ambulanzen, Zelte und mobile Operationssäle.

Jedes Jahr liegt ein grosser Teil dieser Ausrüstung auf dem Rasen der Militärkaserne in der Hauptstadt Bern, wo die einzige zentralisierte «Führungsschule Einheit» stattfindet. Hier wird angehenden Offizieren gezeigt, «was für gutes Material wir für die Katastrophenhilfe und den medizinischen Einsatz zur Verfügung haben», wie Oberst Philipp Imboden sagt.

Oft würden interessierte Personen eingeladen, die Schule zu besuchen: «Als Steuerzahler will ich wissen, was die Armee mit dem Geld anstellt. Darum zeigt ihnen die Armee, was sie hat. Und sie sehen, wie gut wir ihr Geld einsetzen», so Imboden.

Im April 2013 veröffentlichte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz einen umfassenden Bericht über 12 Risiko-Szenarien für die Schweizer Bevölkerung.

65 Experten und Expertinnen aus der Bundesverwaltung, den Kantonen, der Wissenschaft und der Wirtschaft erarbeiteten ein Diagramm, das die Wahrscheinlichkeit solcher Ereignisse in der Schweiz innerhalb der nächsten 100’000 Jahre zeigte (auf einer Skala von relativ plausibel bis kaum vorstellbar).

Laut dem Diagramm das grösste Risiko stellt eine mögliche Pandemie dar, gefolgt von einem Erdbeben. Ein schweres Erdbeben wird in der Schweiz alle 1000 Jahre erwartet. Das letzte ereignete sich 1356 in Basel und führte zu grossen Schäden.

Mögliche Auswirkungen

Doch wie und wofür die Armee die Steuergelder einsetzt, könnte sich bald ändern: Im Mai präsentierte Verteidigungsminister Ueli Maurer einen Plan zur Verkleinerung der Armee, einen Monat später machte das Parlament einen Vorschlag zu deren Reform.

Zu den Vorschlägen gehört die Reduktion der Soldaten von 180’000 auf 100’000, nur noch zwei statt drei Rekrutenschulen pro Jahr, Wiederholungskurse sollen statt drei Wochen nur noch 13 Tage dauern, Soldaten nur noch insgesamt 225 statt wie bisher 260 Tage Dienst leisten und zudem einige Militärflugplätze und Waffenplätze geschlossen werden.

Welchen Einfluss die Verkleinerung der Armee auf die Katastrophenhilfe hätte, sei nicht einfach zu beantworten, sagt Kurt Münger, Kommunikationschef des Bundesamts für Bevölkerungsschutz . «Wird bei der Schweizer Armee Personal abgebaut, scheint es klar, dass sich die Unterstützung von zivilen Behörden durch die Armee verringern muss. Nun ist es an den Kantonen, zu analysieren, ob sie damit ein Problem haben.»

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Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Wie sieht der Alltag in der Schweizer Armee heute aus? Fotografen der Agentur Keystone haben kürzlich verschiedene Truppen besucht und ihre Eindrücke festgehalten. (Bilder: Keystone)

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Sandsäcke statt Gewehre

In der Zwischenzeit hat die Armee eine weitere Hürde zu nehmen: Im September wird das Schweizer Stimmvolk an die Urne gerufen, um sich zur GSoA-Volksinitiative zur Abschaffung der obligatorischen Wehrpflicht für alle Schweizer Männer zu äussern.

Welche Auswirkungen eine Annahme dieses Volksbegehrens auf die Katastrophenhilfe haben könnte, sei «in der Initiative nicht definiert», wie Münger erklärt. Sie würden mit verschiedenen Optionen unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob es künftig überhaupt keine Armee mehr, eine freiwillige Milizarmee oder eine Berufsarmee geben wird.

Die erste Option wäre in den Augen von Nikolai Prawdzic die beste Wahl: «Grundsätzlich braucht man kein Gewehr, um Sandsäcke zu tragen», sagt er.

Für die Obersten Christen und Imboden hingegen hat sich das gegenwärtige System der Milizarmee bewährt. Denn eine Berufsarmee wäre viel teurer. «Wir haben nicht ständig Katastrophen und man kann diese nicht planen. Was sollen also Berufssoldaten tun, wenn es zu keinen Katastrophen kommt?», fragt Christen.

«Sollte das Volk zur Milizarmee, wie wir sie heute haben, Nein sagen, müssen die Politiker entscheiden, wie es weitergehen soll. Dann ist es ein politisches Problem.»

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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