Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Kein Schweizer Modell: Emmanuel Macron will geteiltes Referendum zum Leben erwecken

"RIC": Die Protestbewegung der Gelbwesten forderte 2018 das Referendum über die Bürger:inneninitiative, das sich an die Schweizer Volksinitiative anlehnt. Copyright 2018 The Associated Press. All Rights Reserved.

Es ist bisher eine demokratische Totgeburt: Das französische Referendum der geteilten Initiative. Nun möchte Präsident Macron dem sperrigen Beteiligungstool auf die Sprünge helfen. Ein Schritt in Richtung einer halbdirekten Demokratie nach Schweizer Vorbild? Nein, sagen Beobachter:innen.

Werden die Französinnen und Franzosen während der zweiten Amtszeit von Emmanuel Macron, die bis 2027 dauert, für eine Abstimmung an die Urnen gerufen? Letztmals war dies 2005 der Fall, als sie in einer Volksabstimmung den Europäischen Verfassungsvertrag versenkten.

Anfang Oktober nun machte der französische Präsident eine kleine Geste in Richtung einer volksnäheren Demokratie: Die Anwendung des Instruments mit dem komplizierten Namen Referendum der geteilten Initiative, kurz RIP, müsse erleichtert werden, sagte Macron. Dies ist auch nötig, hat doch das 2008 eingeführte Instrument bisher kein einziges Mal zu einer Volksabstimmung über eine Forderung aus den Reihen von Bürger:innen geführt.

Erbe der Gelbwestenbewegung

RIP steht auch für einen komplexen Prozess: Bisher sind ein Fünftel des Parlaments und ein Zehntel der Wähler:innenschaft – das sind 4,8 Millionen Menschen! – nötig, um ein Referendum der geteilten Initiative zu starten.

Der Staatschef möchte diese Hürden nun senken und die thematische Anwendung des Tools ausweiten. Denn aktuell ist dieses auf internationale Verträge und die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik beschränkt. Für Macrons Plan braucht es aber eine Verfassungsänderung.

Externer Inhalt

Diese wenigen, sehr vorsichtigen Worte des Präsidenten reichten aus, um im Land die Szene der Befürworter:innen einer direkten Demokratie aufzurütteln. Diese wächst von Tag zu Tag. Auf dem Höhepunkt der Gelbwesten-Bewegung 2018/19 konnte man auf ihren Transparenten die Forderung «RIC!» lesen.

Das Kürzel steht für Referendum der Bürgerinitiative, ein Instrument, das den Schweizer Volksrechten Volksinitiative und Gesetzesreferendum nachempfunden ist. Zusätzlich bietet das RIC aber die Möglichkeit, gewählte Politiker:innen abzuwählen.

Gleichzeitig interessieren sich viele Rechts- und Politikwissenschaftler:innen immer mehr für die direkte, partizipative oder deliberative Demokratie. Einige von ihnen trafen sich Ende Oktober in der Schweizer Botschaft in Paris zu einer Debatte über das Schweizer Modell der direkten Demokratie. Anlass war der 175. Geburtstag der Schweizer Verfassung von 1848 in diesem Herbst.

«Macron hat eine historische Chance verpasst»

«Die in der Schweiz existierenden Instrumente der direkten Demokratie sind nicht direkt übertragbar, aber ein Teil der Mechanismen könnte sehr wohl in Frankreich angewendet werden», sagte Yves Sintomer, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Paris 8 und der Universität Neuchâtel.

«Emmanuel Macron hat nach der Gelbwestenbewegung eine historische Chance verpasst. Nach dem Vorbild von General de Gaulle, der 1962 die Direktwahl des Staatspräsidenten einführte, hätte er die Volksabstimmung über Bürgerinitiativen einführen müssen, natürlich mit einem Rahmen versehen. Er hatte die Mehrheit, um dies zu tun», so Sintomer.

Sicherlich ist Frankreich nicht die Schweiz. In Frankreich gibt es keine Volksinitiative und das Wort Referendum hat dort nicht dieselbe Bedeutung. «Die nationale Souveränität liegt beim Volk, das sie durch seine Vertreter und auf dem Weg des Referendums ausübt», heisst es jedoch in Artikel 3 der Verfassung der Fünften Republik.

Das Referendum steht also auf derselben Stufe wie das Parlament. Nur: Der Präsident initiiert das Referendum nach eigenem Ermessen. Charles De Gaulle machte mehrmals davon Gebrauch, François Mitterrand zweimal, wie auch Jacques Chirac – letztmals 2005. Seither aber ist Funkstille.

Eidgenössische Abstimmungen: Schneller und bequemer zu relevanten Abstimmungsinformationen. Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Nach 2005 fühlte sich die Bevölkerung «betrogen»

«Das Referendum von 2005 über die EU-Verfassung war Gegenstand einer echten demokratischen Debatte gewesen», erinnert sich Loïc Blondiaux, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne. «Aber die Geschichte ist schlecht ausgegangen.

Das Nein des Volkes hat die Machthaber davon abgehalten, erneut auf ein Referendum zurückzugreifen. Aber vor allem hat das Parlament den negativen Volksentscheid nicht berücksichtigt, indem es den europäischen Verfassungsvertrag im Wesentlichen bestätigte», sagt Blondiaux. «Deshalb fühlte sich ein Teil der Bevölkerung betrogen.»

Sollte man also seine Hoffnungen auf das Referendum mit geteilter Initiative setzen, diesen knorrigen Cousin unserer Volksinitiative? Emmanuel Macron möchte das Instrument nun vor allem auch für gesellschaftliche Themen öffnen. Zum Beispiel für die Einwanderung, um der Rechten, ohne die er nicht regieren kann, entgegenzukommen. «Die RIP ist eine verfassungsrechtliche Absurdität: Sie wurde in die Verfassung aufgenommen, um nicht genutzt zu werden,» sagt Loïc Blondiaux.

Demokratie-Tool zur Demokratie-Verhinderung

Wie die beiden von der Opposition initiierten und vom Verfassungsrat abgelehnten RIPs zur Rentenreform in diesem Jahr gezeigt haben, gibt dieses Instrument dem Volk keineswegs seine Souveränität zurück. Der Beweis: Selbst wenn nach einem langen Sammel-Marathon 4,8 Millionen Unterschriften von Bürger:innen zusammenkommen, kann das Parlament das Thema aufgreifen und damit machen, was es will. Ohne dass das Volk an der Urne darüber abstimmen kann.

«In Frankreich sollte das Volk eigentlich souverän sein, aber die Regierenden haben so viel Angst vor ihm, dass sie es nie befragen», sagt Marie Gren, Professorin für öffentliches Recht an der Universität Panthéon-Sorbonne in Paris.

Das Referendum spaltet sogar die Akademiker:innen

«Viele meiner akademischen Kolleg:innen misstrauen dem Referendum, weil sie befürchten, dass das Volk es nutzen könnte, um die Todesstrafe wieder einzuführen, Ausländer:innen abzuschieben etc. Natürlich sollte es einen Rahmen haben und verhindern, dass die Grundrechte in Frage gestellt werden. Vor allem aber sollte es wie in der Schweiz regelmässig zur Anwendung kommen.»

In Frankreich spaltet der Begriff «Referendum» sogar die Befürwortenden einer aktiveren, volksnäheren Demokratie. Vielleicht, weil es regelmässig von Marine Le Pens ganz rechts angesiedeltem Rassemblement National bemüht wird. Vielleicht auch, weil es eine binäre Wahl darstellt, bei der demagogische Argumente über die Vernunft siegen könnten. Deshalb ziehen Aktivist:innen oft die partizipative oder deliberative Demokratie gegenüber der direkten Demokratie vor. Formate sind etwa Bürgerkonvente, welche die Entscheidungen des Parlaments beeinflussen können.

Politisches Instrument

«Es ist schade, dass sich Frankreich nicht stärker vom Schweizer Modell inspirieren lässt», bedauert Loïc Blondiaux. «Ist man hier in der Minderheit, wird einem jedes Mittel genommen, um auf die politische Agenda einzuwirken. Ein Referendum gibt nicht nur dem Volk eine Stimme, sondern verändert auch das politische Kräfteverhältnis.»

Der Schweizer Historiker Thomas Maissen, Professor an der Universität Heidelberg, sagt: «Bis in die 1990er-Jahre wurden die meisten Volksinitiativen, die oft nicht aus den Reigen der politischen Akteur:innen stammten, abgelehnt. In den letzten dreissig Jahren haben die Parteien, insbesondere die rechtskonservative SVP und die linke SP, deren Nutzen entdeckt.» Die Politiker:innen nutzen das Referendum also als Drohkulisse, um Zugeständnisse bei diesem oder jenem Thema zu erwirken.

Aber wie alle politischen Systeme ist auch das Schweizer Modell nicht perfekt. Astrid Epiney, Rektorin der Universität Freiburg, ist der Meinung, dass Referenden, also die reale Möglichkeit von Volksinitiativen und Volksabstimmungen, zu Blockadeinstrumenten werden können. «Die gewählten Volksvertreter:innen haben manchmal Angst, ein bestimmtes Dossier voranzutreiben, weil sie befürchten, dass ihnen das Volk widerspricht.»

Editiert von Samuel Jaberg. Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft