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«Klimaflucht betrifft auch reiche Länder»

Ein Hochwasser führte im Februar 2014 im Südwesten Englands zu massiven Überschwemmungen. Keystone

Die zwischenstaatliche Expertengruppe zum Klimawandel (IPCC) publiziert einen neuen Bericht zu den Folgen des Klimawandels. Dabei werden besonders Migrationsphänomene unter die Lupe genommen. Gemäss dem Schweizer Experten Etienne Piguet beschränkt sich das Thema der Migration in Folge von Klimawandel keineswegs auf arme Länder.

Tausende von Amerikanern suchen in Mexiko Zuflucht vor Schnee und Kälte. Reine Fantasie? Im Moment schon noch. Doch diese Szene aus einem Hollywood-Film verdeutlicht sehr gut, welche Folgen der Klimawandel haben kann.

Bis zum Jahr 2100 werden Millionen von Menschen die Küstengebiete wegen des ansteigenden Meeresspiegels verlassen. Diese Meinung vertritt wenigstens die zwischenstaatliche Expertengruppe zum Klimawandel (IPCC) in einem Bericht, den sie am 31. März 2014 veröffentlicht.

Gemäss Etienne Piguet, Direktor des geografischen Instituts der Universität Neuenburg, kennt man die Auswirkungen des Klimawandels auf das menschliche Verhalten gut. Gleichwohl kommt er in seiner jüngsten Recherche zu überraschenden, teils paradoxen Erkenntnissen.

Der vom Menschen verursachte Klimawandel hat schon jetzt schwerwiegende Auswirkungen auf allen Kontinenten und in den Meeren. Das ist die Kernbotschaft des neuen Weltklimaberichts, dessen zweiten Teil der Weltklimarat IPCC am 31. März 2014 im japanischen Yokohama vorlegte.

Wie viel schlimmer es durch die voranschreitende Erderwärmung für Mensch und Natur noch kommen werde, hänge davon ab, was der Mensch in naher Zukunft dagegen unternehme.

Der Klimawandel lasse nicht nur die Gletscher abschmelzen, er verändere auch Ökosysteme und dränge Arten an den Rand des Aussterbens. Er bedrohe zudem die Nahrungsversorgung der Menschen weltweit.

Das Risiko der Erhöhung des Meeresspiegels würde besonders Europa und Asien bedrohen, während die Erderwärmung in Afrika den Zugang zu Wasser erschweren könnte.

Überflutungen von Küstenregionen, Dürreperioden und Hitzewellen könnten zu Flüchtlingsbewegungen führen, durch die indirekt das Risiko gewaltsamer Konflikte verschärft werden könnte.

swissinfo.ch: Viele glauben, dass das Phänomen der Klimamigration noch sehr jung sei. Ist es wirklich so?

Etienne Piguet: Seit 2007, als der erste Bericht der Expertengruppe IPCC erschien, hat der Begriff der klimatischen Migration eine Art Renaissance erfahren. Denn eigentlich geht es um ein sehr altes Phänomen.

Erinnern wir uns beispielsweise an die so genannte «Dust Bowl» (Staubschüssel) der 1930er-Jahre. Sandstürme führten dazu, dass viele Bauern von den Grossen Ebenen in den USA nach Kalifornien flüchteten.

Oder die grosse Hungersnot in Irland im 19.Jahrhundert. Viele Iren wanderten damals nach Amerika aus. Der Grund für ihre Not waren ausgebliebene Kartoffel-Ernten. Doch diese fielen wegen der klimatischen Bedingungen aus. Es war über Jahre besonders regnerisch und feucht gewesen.

swissinfo.ch: Das Klima beeinflusst somit die Migration…

E.P.: Ja und Nein. Im Gegensatz zur Vergangenheit geht man heute davon aus, dass der Klimawandel nur einer von mehreren Migrations-Faktoren ist. So ereignete sich der «Dust Bowl» nach dem Börsencrash von 1929 und somit in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Die Situation der Bauern war bereits schwierig. In Irland förderte Grossbritannien bereits die Emigration. Neben dem Klima gab und gibt es also immer auch politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren.

Mehrere Studien zeigen, dass Temperaturen und Dürreperioden die Produktivität der Landwirtschaft stark beeinflussen. Dafür gibt es zwei Gründe: Die Erträge aus der Landwirtschaft sinken, und, mit steigenden Temperaturen, die Arbeit für den Menschen wird anstrengender.

Diese schwieriger werdenden Bedingungen setzen der Bevölkerung zu. Doch emigrieren die Einwohner? Das ist schwer zu sagen. Falls sich neue wirtschaftliche Perspektiven eröffnen, können sie vielleicht an ihrem angestammten Ort bleiben.

Denken wir nur an die Niederlande und das Ansteigen des Meeresspiegels. Wenn die Regierung keine finanziellen Mittel hätte, um Deiche zu bauen, müsste die Bevölkerung das Land verlassen.

swissinfo.ch: Wenn man von Migration als Folge des Klimawandels spricht, denkt man zuerst an arme Länder. Ist das korrekt?

E.P.: Aus technischen und politischen Gründen haben arme Länder wesentlich mehr Schwierigkeiten, die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen. Unsere letzte Studie hat jedoch – ein wenig überraschend – aufgezeigt, dass die Migration als Folge des Klimawandels auch reiche Länder betrifft.

In Bezug auf die Bevölkerungszahl stehen diese Länder in der ersten Reihe. Denken wir nur an das bevölkerungsreiche China oder an die Millionen von Menschen, die an den Meeresküsten leben. Naturkatastrophen könnten in Zusammenhang mit wirtschaftlichen Veränderungen in Europa und Nordamerika durchaus zu Migrationsbewegungen führen. Beim Hurrikan «Katrina» im Jahr 2005 konnte man dieses Phänomen schon beobachten.

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Ich möchte aber einen anderen wichtigen Aspekt unterstreichen. Trotz der Gefahren durch das Ansteigen des Meeresspiegels stellen wir in den bedrohten Gegenden ein starkes Bevölkerungswachstum fest. Gerade die Küstenstriche von China und Afrika ziehen immer mehr Bewohner an. Das ist eigentlich eine paradoxe Situation. Und potenziell sehr gefährlich.

Viele Migranten sind sich der Gefahren durchaus bewusst. Aber sie leben in einem anderen Zeithorizont. Sie befinden sich in einem Überlebenskampf und denken nur daran, wie sie ihre Familie jeden Tag ernähren können. Sie denken nicht an das Risiko, dass schon am nächsten Tag ihre Behausung an einem exponierten Ort von einem Hurrikan weggerissen werden könnte.

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swissinfo.ch: Und wie steht es um die Schweiz? Es gibt Studien, die zum Schluss kommen, dass in Folge des tauenden Permafrostes ganze Talschaften nicht mehr bewohnbar sein könnten.

E.P.: Die Schweiz ist, genauso wie andere Industriestaaten, nicht von den wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Klimawandels ausgenommen. Doch unser Land wird wohl kaum mit gewaltigen Strömen von Personen rechnen müssen, die in Folge eines Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen.

Die Situation von einigen Tälern ist effektiv heikel. Sie könnten tatsächlich unbewohnbar werden. Es geht um einige hundert Häuser. Für die Personen, die dort wohnen, ist das natürlich dramatisch.

Gleichwohl müssen wir relativieren: Die Situation in der Schweiz lässt sich beispielsweise nicht mit einer Provinz in Bangladesch vergleichen, wo 95 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft leben und immer häufigere Dürrezeiten erleiden.

swissinfo.ch: Sollen Personen, die wegen klimatischen Bedingungen ihre Heimat verlassen, einen eigenen Status erhalten, im Sinne der Bezeichnung «Klimaflüchtlinge»?

E.P.: Über dieses Thema wird viel gesprochen. Dabei gibt es drei Denkschulen. Eine Strömung meint, dass man eine neue Konvention verabschieden müsste, um solche Personen zu schützen, die aus klimatischen Gründen ihre Heimat verlassen.

Andere sind der Auffassung, dass es reichen würde, die bestehende Flüchtlingskonvention um klimatische Aspekte zu erweitern. So wird es bereits von der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) gehandhabt, in deren Konvention der Flüchtlingsstatus schon Naturkatastrophen einschliesst.

Als dritte Option gibt es die Möglichkeit, humanitäre Hilfe und Prävention zu verbessern sowie auf Solidaritätsmechanismen zwischen besonders gefährdeten Gebieten zu setzen.

Sicher ist jetzt schon, dass es vielen Personen nicht möglich sein wird, klimatische Katastrophengebiete zu verlassen. Denn nur wer über eine gute Gesundheit und die notwendigen Ressourcen verfügt, kann sich auf den Weg machen. Die Situation für Personen, die ihre Wohngebiete nicht verlassen können, dürfte noch katastrophaler werden als für Flüchtlinge.

Die zwischenstaatliche Expertengruppe zum Klimawandel (IPCC), zu der auch einige Schweizer Fachleute gehören, hat ihren 5. Bericht zum Klimawandel ausgearbeitet. Das Dokument fasst die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen. Die Ergebnisse werden etappenweise publiziert.

Der erste Teil (wissenschaftliche Grundlagen des Klimawandels) wurde im September 2013 vorgestellt. Darin wird die These aufgestellt, dass globale Erwärmung ein unumstösslicher Fakt ist und zu 95% auf menschliches Handeln zurückzuführen ist.

Der zweite Teil wurde am 31. März 2014 publiziert. Er behandelt unter dem Titel «Einflüsse, Anpassung und Verwundbarkeit» die Folgen des Klimawandels für Natur (Wälder, Ökosysteme, Wasserreserven) und Mensch.

Die Publikation des dritten Teils (zur Abfederung der Folgen des Klimawandels) ist für den 13. April 2014 vorgesehen. Der zusammenfassende Abschlussbericht soll schliesslich im Oktober 2014 in Kopenhagen der Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Als Folgen von Naturkatastrophen wurden 2012 weltweit 32,4 Millionen Personen obdachlos.

Bei 98% waren klimatische und meteorologische Ereignisse dafür verantwortlich: Überschwemmungen, Stürme oder Brände.

Am stärksten betroffen waren folgende Länder: China, Indien, Pakistan, Philippen und Nigeria.

Allein im Nordosten Indiens haben die anhaltenden Überschwemmungen in der Monsunzeit 6,9 Millionen Menschen obdachlos gemacht (das entspricht fast der Bevölkerungszahl der Schweiz).

In den USA mussten allein 800’000 Personen in Folge der Hurrikans «Sandy» flüchten.

(Quelle: Report «Global Estimates 2012»)

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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