Könnte die Schweiz Russlands Währungsreserven beschlagnahmen?
Ob die eingefrorenen Guthaben der russischen Zentralbank beschlagnahmt und dem Wiederaufbau in der Ukraine zugeführt werden können, wird in ganz Europa intensiv diskutiert. Das Vorhaben führt zu rechtlichen Fragezeichen – auch in der Schweiz.
Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind Guthaben der russischen Zentralbank eingefroren. Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rats, will, dass die EU-Mitgliedstaaten diese Gelder in einen Fonds überführen, in dem sie gewinnbringend verwaltet werden können. Die Erträge sollten dann für den Wiederaufbau in der Ukraine verwendet werden.
«Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und Fairness», hat Michel gegenüber der Financial Times erklärt. «Es muss im Einklang mit den rechtlichen Grundsätzen geschehen – das ist ganz klar.»
Einige Mitgliedsstaaten stellen in Frage, ob eine Rechtsgrundlage für die Beschlagnahme von Geldern eines fremden Landes besteht, und fürchten die potenziellen Risiken für die Finanzstabilität. EU-Offizielle haben versichert, dass alle Massnahmen zusammen mit den Verbündeten ergriffen würden.
Die Schweiz ist eine dieser Verbündeten. Während eine Arbeitsgruppe gerade zum Schluss kam, dass die Enteignung von Privatvermögen rechtmässiger Herkunft nach Schweizer Recht illegal wäre, bleibt eine weitere Option. Die Beschlagnahme von Russlands eingefrorenen Währungsreserven und anderen staatlichen Vermögenswerten wäre eine Möglichkeit, die die Regierung nach eigenen Angaben aufmerksam verfolgt.
Warum sind die Staaten an Russlands Zentralbankgeldern interessiert?
Die Ukraine hat von den Ländern, die Sanktionen gegen Russland verhängt haben, gefordert, alle eingefrorenen Vermögenswerte nach Kiew zu überweisen. Dort sollen diese für den Wiederaufbau verwendet werden können.
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Enteignen statt einfrieren: Geht das in der Schweiz?
Der Schwerpunkt lag bisher auf der Beschlagnahmung von Vermögenswerten russischer Oligarchen. Die Schweiz hat rund 7,5 Milliarden Franken (8 Mrd. Dollar) dieser Gelder eingefroren, nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf einen anderen Topf: die russischen Devisenreserven im Wert von rund 275 Milliarden Franken (300 Milliarden Dollar), die auf internationalen Konten liegen und nach Beginn des Kriegs eingefroren worden sind.
Diese Gelder könnten einen grossen Beitrag zur Finanzierung des Wiederaufbaus leisten, der nach Schätzungen des ukrainischen Premierministers Denys Shmyhal vom Herbst 2022 750 Milliarden Dollar kosten kann. Die EU ist jedoch noch an einer Bestandsaufnahme darüber, wie viel Geld in ihrem Hoheitsgebiet genau eingefroren wurde. Nach einer Schätzung sind es rund 33 Milliarden Euro (32,5 Milliarden Franken).
Dürfen Staaten überhaupt Vermögenswerte beschlagnahmen, die in ihrem Gebiet eingefroren wurden?
In der EU und der Schweiz gibt es derzeit kein Gesetz, das es den Behörden erlauben würde, eingefrorene russische Vermögenswerte zu beschlagnahmen.
Die Schweiz hätte die Möglichkeit ein Bundesgesetz einführen, das sie dazu ermächtigt, sagt Peter V. Kunz, Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht an der Universität Bern. Aber jeder Gesetzesentwurf könnte eine Volksabstimmung bedingen.
In der EU sollte das Erstellen rechtlicher Grundlagen relativ einfach sein, meint Matthias Goldmann, Professor für internationales Recht an der EBS Universität in Wiesbaden. Die 27 Mitgliedstaaten könnten beispielsweise im Rahmen ihrer supranationalen Zuständigkeit für die Verhängung von Sanktionen eine Treuhandinstitution für die Verwaltung der beschlagnahmten Gelder einrichten – oder sie tun dasselbe auf der Grundlage eines internationalen Abkommens. Letzteres wäre das wahrscheinlichere Szenario.
Strittig ist vor allem die Frage, ob die Beschlagnahme des Geldes nach internationalem Recht legal ist, sagt Goldmann. Denn Zentralbankreserven geniessen staatliche Immunität vor Vollstreckung. Das bedeutet, dass Gelder nicht beschlagnahmt werden können, sofern sie für den öffentlichen Gebrauch geplant sind.
«Verstösst das gegen die Immunität Russlands? Es ist unklar, ob die Zentralbankgelder einer Regierung, die einen schwerwiegenden Verstoss wie einen Angriffskrieg begangen hat, noch Immunität geniessen», sagt Goldmann.
Sollten die Staaten zum Schluss kommen, dass Russlands Immunität Bestand hat, müsste Russland der Beschlagnahmung zustimmen. Wenig überraschend hat Moskau jedoch bereits erklärt, dass es sich gegen jeden Versuch wehren würde, seine Gelder zu beschlagnahmen.
Gab es das schon mal?
Die meisten Fälle der Beschlagnahmung ausländischer Reserven sind laut Goldmann im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Staatsschulden aufgetreten.
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Der Weg der Afghanistan-Milliarden nach Genf
Relevanter für die Situation mit der russischen Zentralbank scheint das Beispiel Afghanistan. Vergangenes Jahr erlaubte ein US-Gericht den Behörden, die Hälfte der in New York eingefrorenen Reserven der afghanischen Zentralbank – rund 3,5 Milliarden Dollar – in einen Genfer Treuhandfonds zu überführen. Der Treuhandfonds hat das Ziel, einen Teil dieses Geldes an die afghanische Bevölkerung auszuzahlen. Deren humanitäre Lage hat sich verschlechtert, seit die Taliban 2021 wieder an der Macht sind.
Dieser Entscheid – mit der laufenden Diskussion über die russischen Gelder zusammengefacht – könnte auch als Zeichen dafür gewertet werden, dass sich eine gewohnheitsrechtliche Regel herausbildet, die bei schweren Rechtsverletzungen Ausnahmen von der Immunität erlaubt, so Goldmann.
Was ist mit den Risiken für die internationale Finanzstabilität?
Einige Staaten haben angedeutet, dass die Beschlagnahme russischer Vermögenswerte auch andere Zentralbanken dazu bringen könnte, künftig keine Gelder mehr im Ausland zu halten. Da es als riskant erscheint. Goldmann schliesst diese Möglichkeit nicht aus.
«Es könnte sein, dass einige Zentralbanken infolgedessen versuchen, ihr Gold nach Hause zu bringen», sagt er. «Das hängt vom Risikoprofil des jeweiligen Landes und den Umständen ab. Aber dieses Homeshoring wäre kein Hindernis für den internationalen Handel.»
Russland selbst würde seine verbliebenen Währungsreserven wahrscheinlich retten wollen. «Sie haben einige versteckte Konten. Sie werden definitiv versuchen, diese nach Hause zu bringen», sagt Goldmann. «Doch für eine Bank wie die russische wird es immer wichtig sein, einige Reserven im Ausland zu haben, weil man nie weiss, was mit der heimischen Währung passieren könnte.»
Wie wahrscheinlich ist es, dass die Schweiz die eingefrorenen Gelder Russlands tatsächlich beschlagnahmt?
Kunz von der Universität Bern hält es für undenkbar, dass die neutrale Schweiz die russischen Reserven beschlagnahmt.
«Eine Konfiszierung wäre eine radikale Änderung gegenüber der aktuellen Situation [mit der Neutralitätsposition des Landes]», sagt er. «Sie wäre nur dann akzeptabel, wenn nicht nur die USA, die EU und andere die Vermögenswerte beschlagnahmen, sondern auch die UNO entsprechende Sanktionen verhängt.» Letzteres sei angesichts des russischen Vetos im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen höchst unwahrscheinlich.
Kunz ist zudem skeptisch, dass die Schweizer Stimmberechtigten der Beschlagnahme von Vermögenswerten zustimmen würden.
Im Moment halten sich die Behörden zu ihren Absichten bedeckt. Ingrid Ryser, Sprecherin des Justizdepartements, erklärte gegenüber SWI swissinfo.ch, dass die Schweiz «bereit ist, sich für einen international abgestimmten Prozess einzusetzen, um Lösungen zu finden, die eine Wiedergutmachung der entstandenen Schäden und den Wiederaufbau der Ukraine ermöglichen und gleichzeitig die Grundsätze des Rechtsstaats respektieren». Die Frage, ob die Schweiz die EU bei der Einrichtung eines Treuhandfonds mit russischen Zentralbankreserven unterstützen würde, liess Ryser unbeantwortet.
Goldmann hingegen ist der Meinung, dass die europäischen Staaten die Vermögenswerte konfiszieren sollten. Nur schon, weil diese bei künftigen Friedensverhandlungen ein Druckmittel sein könnten.
«Wenn die Ukraine eine gewisse Basis für Verhandlungen hat, dann wird sie Schadenersatz fordern», sagt Goldmann. «Und dann kommen diese eingefrorenen Vermögenswerte ins Spiel.»
Editiert von Marc Leutenegger. Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl
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