«Kollateralschäden» des verschärften Asylwesens
Die Zuwanderung in die Schweiz und in europäische Länder begünstige nur die Menschenhändler und trete die Menschenwürde mit Füssen. Dies sagt der eritreische Priester Mussie Zerai, ein unermüdlicher Kämpfer für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten.
Sie nennen ihn den «Engel der Flüchtlinge». Mussie Zerai, vor zwanzig Jahren selber als Flüchtling in Europa angekommen, ist heute die wichtigste Bezugsperson für die eritreische Diaspora in der Schweiz und in Europa.
Regelmässig erhält er Anrufe von Flüchtlingen in misslicher Lage – mitten auf dem Meer oder in libyschen Haftanstalten.
Seit einigen Monaten arbeitet er in Freiburg für die abessinische Kirche von Eritrea und Äthiopien in der Schweiz.
swissinfo.ch: Reden wir zuerst über den Anfang: Wie entscheidet sich ein Mensch, sein Land zu verlassen? Ist es eher eine überlegte Wahl oder eine Reaktion auf ein plötzliches Ereignis?
Mussie Zerai: Nehmen wir das Beispiel Eritreas. Nach der Unabhängigkeit (1993) hoffte man auf einen demokratischen Rechtsstaat. Die Machtübergabe des Militärs allerdings ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Es hat noch keine Wahlen gegeben, und es fehlen jegliche Freiheiten. Die Menschen sind Sklaven des Staates.
Es herrscht ein Klima gegenseitigen Misstrauens. Man kann niemandem mehr trauen, nicht einmal im eigenen Haus. Alle Männer unter 50 Jahren werden als Reservisten des Militärs eingestuft und dürfen das Land nicht verlassen. Oft werden sie als Fronarbeiter für die Mächtigen eingesetzt.
Stellen wir uns einen jungen Mann vor, dem 15 bis 20 Jahre seines Lebens genommen werden, um der Armee zu dienen: Wie soll er sich eine Zukunft aufbauen, wenn er nie einer Arbeit nachgehen konnte?
Angesichts dieses Mangels an Perspektiven und der Ungerechtigkeit kommen viele zum Schluss: Lieber auf der Suche nach dem Glück sterben als langsam in Eritrea zu sterben. So kommt es zur Idee der Flucht.
swissinfo.ch: Fliehen… um wohin zu gehen?
M.Z.: Jeden Monat verlassen etwa 3000 Personen Eritrea Richtung Sudan oder Äthiopien. Wer 400, 500 Euro besitzt, vertraut sich einem Schlepper an, wer kein Geld hat, muss allein weiterreisen. Wer nicht von Grenzwächtern getötet oder verhaftet oder von seinem Schlepper verraten oder auf der Strasse zurückgelassen wird, kommt in ein Flüchtlingslager.
Hier, unter Zelten und in der sengenden Sonne, beginnt eine lange Wartezeit, die Jahre dauern kann – ohne Perspektiven, ohne Zukunft. Allein in Sudan leben 200’000 eritreische Flüchtlinge.
Für Essensrationen muss bezahlt werden. In den Lagern gibt es überhaupt keine Sicherheit. Täglich werden Menschen entführt. Je mehr Zeit man im Lager verbringt, desto höher die Chance, dass man selber kriminell wird, sich Gruppen anschliesst, die Konflikte austragen, oder im Sudan ein Pirat wird.
Wer Leute in Europa kennt, lässt sich etwas Geld schicken, um zu überleben und die Reise nach Libyen oder Ägypten fortzuführen.
swissinfo.ch: Wie sind die Bedingungen für die Flüchtlinge, die in Nordafrika ankommen?
M.Z.: Seit die europäischen Staaten, zuvorderst Italien, mit Gaddafi Abkommen abgeschlossen haben, verhaften die libyschen Soldaten Flüchtlinge und Migranten bei Razzien von Haus zu Haus.
Andere werden inhaftiert, nachdem sie aus dem Mittelmeer gefischt worden sind. Was dies betrifft, gibt es kaum eine Veränderung zwischen dem alten und dem neuen Libyen.
Ich habe mindestens 21 Haftanstalten in Libyen gezählt, die auch von den europäischen Ländern finanziert werden. Die Bedingungen in diesen Gefängnissen sind verabscheuungswürdig. Missbrauch, Folter, Frauen werden vergewaltigt und geschlagen, oft vor den Augen ihrer Ehemänner.
Und dann gibt es Zwangsarbeit. Jene, die sich auflehnen, werden systematisch geschlagen. Es herrscht religiöse Diskriminierung und es gibt zu wenig Nahrung und Wasser. Eine Hölle, der nicht einmal die Kinder entgehen können.
Unter diesen Flüchtlingen befinden sich auch Personen, die bereits vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge anerkannt worden sind. Ihr «Verschulden» ist es, dass sie Schutz gesucht haben vor Verfolgung und Hunger.
swissinfo.ch: Ist also auch Europa mitverantwortlich an diesen Verletzungen?
M.Z.: Absolut. Ich habe diese Situation kürzlich in Brüssel verurteilt. In Europa brüstet man sich damit, die Einwanderung abgebremst zu haben. Die Tatsache, dass nicht mehr viele Menschen aus Libyen nach Europa gelangen, bedeutet aber nicht, dass es keine Flüchtlinge mehr gibt.
Im Gegenteil: Man hat sie in die Fänge von Menschenhändlern getrieben, die Alternativrouten über Ägypten anbieten. Die Situation auf der Sinai-Halbinsel ist extrem dramatisch. Aus Statistiken und unseren Nachforschungen geht hervor, dass Tausende von der ägyptischen Armee getötet oder als Sklaven in arabische Länder verkauft wurden. Viele werden Opfer des Organhandels.
swissinfo.ch: Die Schweiz hat kürzlich eine Reihe von Verschärfungen im Asylrecht vorgenommen. Die harte Linie wird vermutlich die Anzahl Gesuche reduzieren, doch welche Auswirkungen hat sie auf Menschen, die gegenwärtig auf der Flucht sind?
M.Z.: Die Gründe für eine Flucht hängen nicht ab von den Bedingungen in der Schweiz oder einem anderen Land, sondern von jenen im Herkunftsland. Bis sich diese verbessern, werden Menschen weiterhin ihr Glück im Ausland suchen.
Natürlich sind Flüchtlinge besorgt über die Verschärfungen. Es sind Türen, die sich schliessen. Die Folgen sind, dass sie länger in Flüchtlingslagern warten oder sich Menschenhändlern anvertrauen. Diese sind gut informiert über Veränderungen in Europa. Je enger das Netz, desto höher ihre Preise. Indem man Kanäle schliesst, arbeitet man in die Hände der Menschenhändler.
Im Fall der Schweiz denke ich nicht, dass man die Anzahl Asylsuchender vermindert, indem man das Land weniger attraktiv macht. Es reicht ein Blick nach Italien, wo Tausende auf der Strasse oder in Slums schlafen, um zu verstehen, warum sie die Schweiz vorziehen. Das würden wir alle.
swissinfo.ch: Wie also mit dem Problem umgehen?
M.Z.: Man muss von dem Menschen ausgehen. Menschen mit einer Würde, Bestrebungen, Rechten wie wir. Das Einwanderungs-Problem sollte an der Wurzel gelöst werden, indem der Lebensstandard in den Herkunftsländern verbessert wird. Niemand will sein Land einfach so verlassen.
Europäische Staaten könnten Wiedereingliederungs-Programme finanzieren, beispielsweise in Äthiopien oder Sudan, die extrem arm sind und zudem Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Es ist natürlich keine definitive Lösung, doch zumindest könnte man so verhindern, dass viele ihr Leben auf dem Meer oder in der Wüste in Gefahr bringen. Dem Menschenhandel könnte man auch auf diese Art den Riegel schieben.
1975 in Asmara, Eritrea geboren und aufgewachsen. Mit 16 Jahren stellt er ein Asylgesuch in Italien.
Er beendet sein Studium in Rom, wo er diversen Arbeiten nachgeht, bevor er beginnt, jenen Migranten vom Horn von Afrika zu helfen, die nach Italien gekommen sind.
Mit Freunden gründet er 2006 das Hilfswerk Habeshia mit dem Ziel, Migranten und Flüchtlinge bei der Berufsausübung und der Integration in ihren eigenen Ländern zu unterstützen.
Zerai wird 2010 zum Priester geweiht und wird zur Stimme von tausenden Flüchtlingen. Er prangert Behörden und internationale Organisationen an, Mitschuld am Flüchtlingselend zu tragen.
Seine Aussagen sind ein zentrales Element in einer Europarats-Untersuchung (durchgeführt von der niederländischen Abgeordneten Tineke Strik), die nach dem Tod von 63 Migranten, die im März 2011 mitten im Mittelmeer alleingelassen wurden, aufgenommen wurde.
Die Geschichte wird im Schweizer Dokumentarfilm «Mare deserto» nacherzählt, der dieses Jahr einen Journalistenpreis gewonnen hat.
2012 war Mussie Zerai einer der Kandidaten für den Nansen-Flüchtlingspreis, den das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge ausrichtet.
Laut Schätzungen des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge wurden im letzten Jahr weltweit 441’300 Asylgesuche gestellt (2010: 368’000). Die Daten stammen aus 44 Ländern in Europa, Nordamerika, Ozeanien und Asien.
Der grösste Anstieg wurde in Südeuropa verzeichnet, wo die Anträge um 87% auf 66’800 zugenommen haben.
2011 haben in der Schweiz 22’551 Personen Asyl beantragt (in den ersten 9 Monaten 2012 waren es bereits 22’260). Die meisten von ihnen stammten aus Eritrea, Nigeria und Tunesien.
Die UNO-Behörde gibt zu bedenken, dass die gesamte Anzahl der Asylanträge deutlich kleiner ist als die Zahl der Flüchtlinge im kenianischen Flüchtlingslager Dadaab.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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