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Kontroverse um Menschenrechte in der Schweiz

Eine Landsgemeinde in Glarus, Symbol der schweizerischen direkten Demokratie. Keystone

Gewisse politische Kreise sind der Meinung, internationale Organisationen wie die UNO seien nicht legitimiert, die Lage der Menschenrechte in der Schweiz zu beurteilen. SVP-Nationalrat Oskar Freysinger und Völkerrechtler Walter Kälin kreuzen die Klingen.

Es wird grösstenteils als ein Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger jener Länder erachtet, die es anwenden: Das Völkerrecht, abgeleitet aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.

Doch in der Schweiz zweifelt die wählerstärkste Partei, die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), diese Allgemeingültigkeit an, indem sie ein an den Wiener Übereinkommen von 1969 eingeführtes Prinzip in Frage stellt, das Primat des Völkerrechts über die nationale Gesetzgebung.

Der Beispiele gibt es einige, in denen sich die SVP über «fremde Richter» ärgert, welche die Schweiz in diesem Bereich einschätzen.

2006 war es der kritische Bericht des UNO-Sondergesandten für Rassismus, des Senegalesen Doudou Diène; 2008 die erste periodische Überprüfung der Schweiz durch den Menschenrechtsrat im Rahmen des «Examen périodique universel EPU» (allgemeine regelmässige Überprüfung); und nach 2009 die vom Stimmvolk angenommene Minarettverbots-Abstimmung, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekämpft worden war.

«Es ist eine absolut unnötige Übung, weil die Zusammensetzung des Menschenrechtsrats alles andere als glaubwürdig ist», sagt SVP-Nationalrat Oskar Freysinger nun zur zweiten periodischen EPU-Überprüfung der Schweiz von November 2012 in Genf.

«Wenn man sieht, wie gewisse Länder, die eine katastrophale Bilanz im Umgang mit den Menschenrechten haben, der Schweiz Lektionen erteilen wollen, wenn man besonders islamische Länder sieht, die uns belehren wollen, selber aber überhaupt nicht einhalten, was sie von anderen verlangen, dann habe ich grosse Mühe, dieses Urteil zu akzeptieren», sagt der Volksvertreter, der in Europa auch durch Auftritte an antiislamischen Kampagnen bekannt wurde.

«Unsere Institutionen wurden geschaffen, um einen enormen Sicherheitsfilter gegenüber einer möglichen Willkür des Staates zu gewährleisten», fährt Freysinger fort. «Es gibt kein anderes Land, das dem einfachen Bürger und seinen Rechten politisch und juristisch eine derartige Sicherheit garantiert.»

Direkte Demokratie über Völkerrecht?

Der Schweizer Walter Kälin, der als Völkerrechts-Experte an diesen weltweit durchgeführten Untersuchungen für den Menschenrechtsrat beteiligt war, sieht hingegen keinen grossen Widerspruch zwischen der schweizerischen Rechtsordnung und den international definierten Menschenrechten.

«Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, dass allein die Erwähnung der Menschenrechte in gewissen Kreisen als negativ empfunden wird, wie eine Störung, wie etwas, was unseren Traditionen fremd ist», so Kälin.

«Wenn wir unsere alte Verfassung von 1874 mit dem Katalog der Menschenrechte vergleichen, fällt auf, dass viele dieser Garantien zu universellen Standards geworden und absolut kompatibel mit unseren demokratischen Traditionen sind, die auf den Grundrechten basieren.»

Gewiss, im internationalen Vergleich sei die Situation in der Schweiz gut, wie Aussenminister Didier Burkhalter letzten Monat zum Anlass des zweiten EPU-Zyklus für die Schweiz erklärte.

Walter Kälin teilt diese Einschätzung. Doch er will etwas differenzieren: «Sogar bei uns gibt es Probleme. Seien es der Menschenhandel – diese neue Form der Sklaverei –, häusliche Gewalt, die Ungleichbehandlung der Frauen in gewissen Bereichen oder sogar Rassismus. Diese grossen Probleme teilen wir mit unseren europäischen Nachbarn.»

Mit anderen Worten, die direkte Demokratie, die in der Schweiz in Kraft ist (sie erlaubt Bürgerinnen und Bürgern mit den Mitteln von Initiative und Referendum Mitsprache an staatlichen Entscheiden), führt nicht automatisch zu einer besseren Einhaltung der Menschenrechte, als in den anderen Demokratien Europas. Auch wenn das politische System der Schweiz politischen Bewegungen rascher zu einer grossen Öffentlichkeit verhilft, als in anderen Demokratien.

Dies war der Fall mit der Volksinitiative für ein Verbot des Baus neuer Minarette in der Schweiz. Mehrere Umfragen nach der Abstimmung hatten in europäischen Ländern gezeigt, dass Europas Bürgerinnen und Bürger auf der gleichen Linie wie das Schweizer Stimmvolk waren.

Volksrechte oder Populismus?

Wie ein Teil der Politiker und der Schweizer Zivilgesellschaft ist Walter Kälin nicht vollends überzeugt vom Umgang der direkten Demokratie mit den Menschenrechten: «Die Schweizer Rechtsprechung – besonders das Bundesgericht – verteidigt die Menschenrechte immer. Das ist auch bei Einzelfällen der Fall. Die Gesetzgebung macht Fortschritte, beispielsweise in Bezug auf die sexuelle Orientierung», sagt er.

«Was aber bedenklich ist, sind vom Stimmvolk und den Kantonen angenommene Initiativen, die Regeln in die Bundesverfassung festschreiben, die mit unseren internationalen Verpflichtungen in Konflikt stehen.»

Als Beispiele zitiert er die Minarett-Initiative, die Volksinitiative «Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter» oder die Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative).

Mit solcher Kritik konfrontiert, antwortet die SVP stets, dass in der Schweiz immer das Volk das letzte Wort habe. Oskar Freysinger ist der Meinung, das Schweizer System sei stark genug, um ein Abgleiten zu verhindern, wie beispielsweise eine Initiative, welche die Todesstrafe einführen möchte.

«Wir sind das einzige Land auf der Welt mit einem System, in dem das Volk der Souverän ist, das heisst, eine Mitbestimmungs-Demokratie. Vom Moment an, in dem man den Bürger in die Pflicht nimmt, sehe ich keine Mehrheit der Schweizer eines Tages für die Wiedereinführung der Todesstrafe stimmen.»

Allerdings: 2010 sorgte eine solche Initiative in der Schweiz für einige Aufregung, bevor die Autoren sie rasch wieder zurückgezogen hatten. Die Begründung: Man habe mit dem politischen Mittel der Initiative lediglich auf Missstände im Schweizer Rechtssystem hinweisen wollen.

1950 forderte die Generalversammlung der Vereinten Nationen alle Staaten und alle entsprechenden internationalen Organisationen auf, am 10. Dezember jedes Jahres den Tag der Menschenrechte zu begehen.

Es ist der Gedenktag zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 durch die UNO-Generalversammlung verabschiedet worden ist.

Dieses Jahr stehen die individuellen Menschenechte – Frauen, Junge, Minderheiten, Behinderte, Ureinwohner, Arme oder Ausgegrenzte – im Mittelpunkt. Deren Stimmen soll in der Öffentlichkeit und bei politischen Entscheiden Gehör verschafft werden.

Diese Grundrechte – Recht auf freie Meinungsäusserung, Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigung, Recht auf Teilnahme an Staatsangelegenheiten – standen im Mittelpunkt der in den zwei letzten Jahren erfolgten historischen Umwälzungen im arabischen Raum.

In anderen Ländern der Welt haben die «99%» in Form der weltweiten Bewegung der Empörten gegen die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ungleichheiten protestiert.

(Quelle: UNO)

Die Allgemeine regelmässige Überprüfung (Examen périodique universel EPU) ist eines der wichtigsten Instrumente des Menschenrechtsrats in Genf.

Beim 2006 eingeführten politischen Evaluationsverfahren wird die Menschenrechts-Situation in jedem UNO-Mitgliedstaat durch die andern Staaten (Peer-Review) in einem viereinhalbjährigen Zyklus überprüft.

Die Schweiz hat ihre erste Überprüfung am 8.Mai 2008 durchlaufen. Die zweite Überprüfung hat am 29. Oktober 2012 stattgefunden.

Bei der zweiten Überprüfung wurden insgesamt 140 Empfehlungen von mehr als 80 Staaten an Bern gerichtet.

Bei der vorläufigen Verabschiedung des Berichts der Arbeitsgruppe am 31. Oktober 2012 akzeptierte die Schweiz 50 Empfehlungen und lehnte 4 sofort ab. Die übrigen 86 Empfehlungen liess sie offen.

Die Schweiz hat nun drei Monate Zeit – von November 2012 bis Februar 2013 –, um zu allen an sie gerichteten Empfehlungen Stellung zu nehmen.

Zu diesem Zweck bringt der Bund – namentlich das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) – die Empfehlungen in Umlauf und leitet ein Entscheidungsverfahren ein, bei dem die Meinungen der Kantone und der interessierten Kreise einbezogen werden können.

(Quelle: EDA)

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub und Jean-Michel Berthoud)

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