Kontroverse um Streumunitionsverbot
Die Schweizer Armee soll ihre Streumunition nicht vernichten müssen. Diese Empfehlung der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats steht für Ex-IKRK-Präsident Cornelio Sommaruga in völligem Kontrast zur humanitären Tradition der Schweiz.
Die Kommission (SiK) hat diese Woche das Abkommen über das Verbot von Streumunition abgelehnt und ihrem Rat mit 13 zu 11 Stimmen bei 2 Enthaltungen empfohlen, den Vertrag nicht zu ratifizieren.
Die bürgerliche Mehrheit der SiK des Nationalrats widerspricht damit dem Ständerat, der die Ratifizierung des Übereinkommens in der Herbstsession mit 27 zu 0 Stimmen beschlossen hatte.
Das Abkommen legt ein umfassendes Verbot der Verwendung, Entwicklung und Produktion, des Erwerbs und Transfers sowie der Lagerung von Streumunition fest.
Die kleine Kammer war der Meinung gewesen, dass die Schweiz zusammen mit anderen Ländern mit gutem Beispiel vorangehen sollte, damit diese Munition auf der ganzen Welt geächtet werde. Denn Streumunition führe besonders unter der Zivilbevölkerung zu schweren Verlusten.
Ganz anders die SiK: Ihrer Ansicht nach hat der Ständerat bei seinem Entscheid die Konsequenzen für die Schweizer Armee zu wenig berücksichtigt. Durch ein Verbot der Streumunition werde die Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee zu stark geschwächt, begründete die Kommission ihren Entscheid.
Sicherheitspolitiker und Ständerat Bruno Frick von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) warnte, ein Verbot von Streumunition «kastriere» die Artillerie.
Und Nationalrat Ulrich Schlüer von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) erklärte, Streumunition sei eine extrem wirksame Munition, darum könne sich gerade die Schweiz, die ja eine Verteidigungsarmee habe, nicht leisten, darauf zu verzichten.
Humanitäre Abrüstung
Der ehemalige Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Cornelio Sommaruga ist «entsetzt» über den Entscheid der nationalrätlichen SiK. «Der Ständerat hatte mit seinem einstimmigen Beschluss zur Ratifikation den Weg gezeigt, wohin sich die Schweiz bewegen soll in einer solchen vielleicht etwas heiklen, aber doch sehr wichtigen Vorlage», sagt er gegenüber swissinfo.ch.
Die Erklärung der SiK, ein Streumunitionsverbot würde die autonome Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee zu stark schwächen, findet der Ex-IKRK-Präsident «unannehmbar». Denn die Streumunition sei eher eine Angriffs- als eine Verteidigungswaffe. «Wenn man sie als Verteidigungswaffe braucht, wird die eigene Bevölkerung in Gefahr gebracht.»
Hier handle es sich nicht um Abrüstung als solche, sondern um eine humanitäre Abrüstung. Denn Streumunition verursache schwere Schäden bei der Zivilbevölkerung, so Sommaruga.
Humanitäre Tradition auf dem Spiel
Ein Abseitsstehen der Schweiz beim Streumunitionsverbot würde bei den humanitären Organisationen, gerade auch beim IKRK, schlecht ankommen. «Als ich IKRK-Präsident war, habe ich das Personenminenverbot vorgeschlagen und mich durchgesetzt, bis eine Konvention zustande gekommen ist. Und die Schweiz hat Gott sei Dank mitgemacht.»
Das IKRK habe sich auch nach seiner Präsidialzeit vehement für ein Streuminenverbot eingesetzt, «mit Unterstützung von Nichtregierungs-Organisationen und einigen Regierungen, wie zum Beispiel der norwegischen», sagt Sommaruga.
Ein Abseitsstehen der Schweiz würde für den Ex-IKRK-Präsidenten in völligem Kontrast zur humanitären Tradition des Landes stehen. Das internationale Ansehen der Schweiz würde leiden. «Genf ist ja das Zentrum für die Minenkonventionen und andere nicht explodierten Munitionen geworden. Wenn jetzt die Schweiz aber abseits steht, verschiebt sich das ganze anderswo hin.»
Sommaruga bedauert es übrigens sehr, dass die Schweiz bei den zwei Konferenzen über die Clustermunitions-Konvention in Laos und im Libanon nur als Beobachterin präsent war.
Unterschiedliche Departementshaltungen
«Das Problem ist – und das habe ich bei den Verhandlungen sehr nahe verfolgen können –, dass man sich in der Bundesverwaltung nicht einig ist», sagt Sommaruga. «Das Verteidigungsministerium war immer ausserordentlich zurückhaltend, während sich das Aussendepartement sehr stark für eine Konvention engagierte, weil humanitäre Fragen ein wichtiger Teil der gesamtschweizerischen Aussenpolitik sind.»
Jetzt wirkten sich diese unterschiedlichen Haltungen auch auf die parlamentarische Debatte aus, bedauert der Ex-IKRK-Präsident. «Erstens ist die Botschaft für die Ratifizierung erst sehr spät vorgetragen worden, und es gab dabei auch noch gewisse Vorbehalte auf Gesetzesebene. All das ist schlecht. Und federführend ist in dieser Sache jetzt das Verteidigungsdepartement. Das ist bedauerlich.»
Hoffnung auf den «neuen» Nationalrat
Wird die Schweiz das Streumunitionsverbot letztlich doch noch ratifizieren? «Die Schweiz muss diese Konvention ratifizieren. Ich hoffe, dass man im neuen Nationalrat vernünftig sein wird», sagt Cornelio Sommaruga.
Man dürfe nicht vergessen, dass beim Zielen auf ein spezifisches Objekt eine Streuung von vielen kleinen Bomben von mindestens einem Kilometer Durchmesser entstehe.
«Und rund 50% dieser kleinen Bomben explodieren nicht, die bleiben zum Teil jahrelang am Boden. Und wer wird sie schliesslich zur Explosion bringen? Das sind Leute, die darauf treten, das sind Kinder, Frauen, Zivilisten – und nicht Militärs.»
Die Schweizer Armee besitzt rund 200’000 sogenannte Kanistergeschosse aus israelischer Manufaktur, die unter das Streumunitions-Verbot fallen würden.
Sie wurden in den 1980er- und 90er-Jahren beschafft und erreichen in den nächsten 10 bis 15 Jahren zu grossen Teilen das Ende ihrer Nutzungsdauer.
Ratifiziert die Schweiz das Übereinkommen gegen Streumunition, muss sie diese Munition für 25 bis 35 Millionen Franken zerstören.
Die Armee dürfte nur noch Streumunition einsetzen, deren einzelne Streugeschosse sich nach gewisser Zeit selber zerstören. Sie verfügt zurzeit nicht über solche Munition.
Die Schweiz war eines der ersten Länder, die das internationale Abkommen über dieses Verbot unterzeichneten und damit sowohl die Entwicklung als auch die Produktion und die Verwendung solcher Geschosse untersagen wollte.
Inzwischen haben 109 weitere Staaten nachgezogen, 61 haben das Abkommen bereits ratifiziert, also definitiv beschlossen.
Länder wie die USA, Russland, China, Indien und Israel, die solche Munition immer wieder in Kriegen einsetzen, wollten das Abkommen bislang nicht unterzeichnen. Bundesrat und Ständerat finden, dass diese Länder immer mehr unter Druck geraten, je mehr Länder dem Vertrag beitreten.
Nach dem Entscheid der nationalrätlichen Sicherheitskommission zur Ablehnung der Ratifizierung kommt das Geschäft nun noch in den Nationalrat.
Cornelio Sommaruga (geb. 1932) war von 1960 bis 1987 in verschiedenen Ländern als Diplomat sowie in Genf für die Schweizer Vertretung bei einer Reihe von internationalen Institutionen tätig.
1987 wurde der Jurist Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und hatte dieses Amt bis 1999 inne.
Seitdem ist Sommaruga in verschiedenen anderen humanitären Organisationen tätig und seit 2000 Ehrenmitglied des IKRK.
Anfang Jahr wurde er als unermüdlicher Kämpfer für ein weltweites Landminen- und Streubomben-Verbot für den Swiss Award nominiert.
Ein erster Schritt ist erreicht: Der Bundesrat hat ein Verbot gutgeheissen, der Ständerat hat der Ratifikation zugestimmt. Nun kommt das Geschäft noch in den Nationalrat.
Sommaruga ist seit 1957 verheiratet mit Ornella Marzorati und Vater von sechs Kindern.
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