«Entscheid verstärkt schlimmste Vorurteile gegenüber Schweizer Justiz»
Die Bundesanwaltschaft stellt ihre Ermittlungen wegen Geldwäscherei im Fall Magnitski ein. Es geht um einen mutmasslichen Betrug über 230 Millionen Dollar. Bill Browder, eine zentrale Figur in der Affäre, empört sich über die Schweizer Justiz.
Bill Browder ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Fondsgesellschaft Hermitage Capital Management mit Sitz in London. Er ist umstritten: Für manche ist er ein unerschrockener Kämpfer gegen Korruption in Russland. Andere sind der Meinung, dass sich der Geschäftsmann rächen will, in dem er eine grosse Propagandamaschine in Bewegung besetzt hat, die von geopolitischen Interessen gegen Russland geleitet ist. Sicher ist: Bill Browder ist eine zentrale Figur in der so genannten Affäre Magnitzki.
Der Fall ist nach dem russischen Anwalt Sergei Magnitski benannt, der 2009 unter ungeklärten Umständen in einem Gefängnis in Moskau starb. Der Jurist stand in Browders Diensten und hatte die Verstrickung hochrangiger russischer Beamter in einen mutmasslichen Betrug in Höhe von 230 Millionen Dollar aufgedeckt. Es handelte sich um Gelder, welche Browders Fondsgesellschaft an die Steuerbehörden Russlands gezahlt hatte, die aber offenbar von einigen korrupten Steuerbeamten veruntreut wurden. Die Gelder sollen dann auf ausländischen Konten der beim Betrug involvierten Personen gelandet sein.
Ein Teil der Gelder floss in die Schweiz. Browder erstattete Anzeige. Die Folge war ein Strafverfahren wegen Geldwäscherei, das die Bundesanwaltschaft (BA) 2011 eröffnet hat. Doch das Strafverfahren steht nun kurz vor der Einstellung und die Bundesanwaltschaft wird einen grossen Teil der beschlagnahmten Gelder in Höhe von 18 Millionen Franken freigeben.
Das verärgert Bill Browder: «Dieser Entscheid verstärkt die schlimmsten Vorurteile gegenüber der Schweizer Justiz. Es ist eine Schande für die Schweiz, dass so viel Geld an die in den Fall verwickelten Personen zurückzugeben wird, während die meisten anderen Länder diese Personen bestraft haben», erklärt Browder an seinem Firmensitz in London.
Fast 20 Millionen gesperrt
Im November 2020 informierte die Bundesanwaltschaft Browder über die bevorstehende Einstellung des Verfahrens mit der Nummer SV 11.0049, zu dem Browder vor 10 Jahren massgeblich beigetragen hatte. Der Investor hatte sich dabei auf Unterlagen von Alexander Perepilichny gestützt, einem Händler, der ursprünglich beim eingefädelten Betrug mitmachte, später aber die Seiten wechselte. Im Jahr 2012 starb Perepilichny beim Joggen in der Nähe von London. Ein Experte sollte später erklären, dass bei der Autopsie Spuren einer giftigen Pflanze gefunden worden seien.
Der Todesfall ereignete sich kurz vor einer von der Schweizer Bundesanwaltschaft angesetzten Gegenüberstellung zwischen Perepilichny und einem der Besitzer der eingefrorenen Konten, Vladlen Stepanov. Es handelt sich um einen Russen, dessen Reichtum sich nur damit erklären lässt, dass er der Ehemann von Olga Stepanova ist, einer hochrangige Moskauer Steuerbeamtin, die offenbar grünes Licht für den Steuerbetrug gab. Etwa die Hälfte des von der BA beschlagnahmten Geldes gehört Stepanov: Neun Millionen. Dieser Betrag wurde von der Firma Faradine Systems Ltd. bei der Credit Suisse hinterlegt.
Weitere neun Millionen Franken lassen sich zwei weiteren Protagonisten zuordnen: Denis Katsyv und Dmitry Klyuev. Der letztere, ehemaliger Besitzer der Universalbank, gilt als einer der Drahtzieher des mutmasslichen Betrugs. Denis Katsyv, Sohn des ehemaligen Vizepräsidenten der Moskauer Regionalregierung, ist Eigentümer der zypriotischen Prevezon Holding, die in den USA bei einem Vergleich 6 Millionen Dollar bezahlte. Die Holding entging so einer Strafuntersuchung, wonach sie Geld aus einem mutmasslichen Immobilienbetrug in Manhattan gewaschen habe. Provezon hatte zwei Konten in der Schweiz: Bei der Bank Edmond de Rotschild und der UBS.
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Umstrittene Berechnungsmethode
Bei der Ankündigung der bevorstehenden Verfahrenseinstellung erklärte die BA, dass nur ein kleiner Teil der beschlagnahmten Gelder einzogen werden soll: Zwischen einer und vier Millionen Franken. Der Restbetrag werde an die Besitzer der gesperrten Konten zurückerstattet. Dieser Entscheid lässt indirekt darauf schliessen, dass am Ursprung des Verfahrens eine in Russland begangene Straftat stehen könnte. Warum wird also nur ein Teil des Geldes eingezogen?
Die Begründung lautet, dass das aus dem mutmasslichen Betrug stammende Geld über verschiedene ausländische Konten lief, bevor es in die Schweiz kam. Im Ausland wurde es mit anderen Geldern vermischt, deren Herkunft unklar ist. Wie mit solchen Geldern umzugehen ist, die möglicherweise nur zum Teil aus kriminellen Vortaten stammen, ist umstritten und durch die Rechtsprechung noch nicht abschliessend geklärt worden.
Die Bundesanwaltschaft hat zur Schätzung der auf den mutmasslichen Betrug zurückzuführenden und damit einzuziehenden Beträge ein proportionales Berechnungsverfahren angewandt – eine Methode, die unter Experten umstritten ist. Der Grund: Sie führt angeblich dazu, bestimmte Geldwäscher zu begünstigen, die ihre illegalen Erlöse mehrfach «verdünnen» können. Dies gilt umso mehr bei diesem Fall, bei dem die aus dem mutmasslichen Betrug stammenden Vermögenswerte über eine Vielzahl von Offshore-Gesellschaften geflossen sind, die selbst keine kommerziellen Aktivitäten aufweisen. Aus diesem Grund fechten die Schweizer Anwälte von Browder die Anwendung der proportionalen Berechnungsmethode an.
Gefährliche Beziehungen
Im Jahr 2011 wurde die Strafuntersuchung Maria-Antonella Bino anvertraut, die im Moment als eine der aussichtsreichsten Kandidatinnen für die Nachfolge von Bundesanwalt Michael Lauber gilt. Sie war es, die das Verfahren wegen Geldwäscherei gegen Unbekannt eröffnete und die Konten sperrte. Doch 2013, ein Jahr nachdem Lauber die Leitung der BA übernommen hatte, trat sie als Bundesstaatsanwältin zurück und wechselt in die Bankenbranche.
Die Ermittlungen wurden dann an Bundesstaatsanwalt Patrick Lamon übergeben, der nun im Fokus von Bill Browders Kritik steht: «Nach Jahren fast ohne Fortschritte in diesem Verfahren hat Staatsanwalt Lamon plötzlich aufgegeben – und gibt einen Grossteil des Geldes an die Russen zurück. Die Verjährung erfolgt erst in drei Jahren. Er hätte die Untersuchung problemlos fortsetzen können, verzichtete aber aus unerklärlichen Gründen darauf.»
In der Vergangenheit hatte der britische Finanzier bereits gefordert, statt Lamon einen anderen Staatsanwalt einzusetzen. Er warf ihm vor, zu langsam zu ermitteln und in der Sache befangen zu sein. Bill Browder setzte ein Fragezeichen hinter Lamons Verbindungen zu V. S., einem ehemaligen Agenten der Bundespolizei, der 2017 wegen Korruptionsverdachts abgesetzt und später, im Juni 2020, wegen Vorteilsannahme in der Schweiz verurteilt wurde.
Der Bundespolizist war wiederholt nach Russland gereist, um mit Staatsanwalt Saak Karapetyan zu sprechen – auch in Begleitung von Patrick Lamon und Bundesanwalt Michael Lauber. Im Jahr 2016 nahm V. S. die Einladung des russischen Staatsanwalts zur Teilnahme an einer Bärenjagd an, was ihm später die erwähnte VerurteilungExterner Link einbrachte. Viele Reisen des ehemaligen Agenten sind umstritten, genauso wie seine Treffen mit Karapetyan. Dieser kam übrigens 2018 bei einem Helikopter-Absturz ums Leben, steht aber immer noch unter Verdacht, eine Schlüsselrolle bei der Vertuschung des mutmasslichen Betrugs gespielt zu haben.
Während des Prozesses vor Bundesstrafgericht gab V.S. zu, dass die Reise 2016 gemacht wurde, um sich auf die Anhörung von Andreas Gross, einem ehemaligen Berichterstatter des Europarats und Verfasser eines BerichtsExterner Link über die Magnitski-Affäre, vorzubereiten. Der ehemalige Agent erklärte, dass der Magnitski-Fall abgeschlossen werden musste und es dafür nötig war, den Gross-Bericht zu «diskreditieren».
Bill Browder kommentiert diese Episode erbost: «Nachdem der leitende Schweizer Ermittler in diesem Fall dabei erwischt wurde, wie er Geschenke von den Russen annahm, und darüber sprach, wie man die Magnitski-Affäre abschliessen könnte, bin ich erstaunt, dass die Schweiz so dreist war, diesem unehrlichen Ansinnen zu entsprechen.»
Diplomatische und politische Nachwirkungen
Im Juli 2020 kommentierte Roger Wicker, ein US-Senator und Co-Präsident der Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (U.S. Helsinki Commission), die Verurteilung von V.S. in einem Brief an den Schweizer Botschafter in Washington. In dem Schreiben heisst es: «Angesichts des Einsatzes bin ich überrascht zu erfahren, dass ein Schweizer Bundespolizist, V.S., auf eine Bärenjagd ging, die von Staatsanwälten organisiert und mit Geld von russischen Oligarchen bezahlt wurde.»
Für den republikanischen Senator Wicker besteht der eigentliche Skandal jedoch in der Untätigkeit der Schweizer Ermittler. Im Dezember 2020 schrieb er an US-Aussenminister Mike Pompeo und US-Justizminister William Barr. In dem BriefExterner Link äusserte er eine gewisse Besorgnis über die Beziehungen zu Bern: «Trotz der Tatsache, dass die Schweiz innerhalb der Regierung einen guten Ruf geniesst, ist die Anfälligkeit ihres Justizsystems für Druckversuch aus Russland ein Grund, die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Eidgenossenschaft neu zu bewerten.»
Inzwischen hat das Thema auch das Schweizer Parlament erreicht. Anfang Dezember baten mehrere Nationalräte verschiedener Parteien (SozialdemokratenExterner Link, Grüne Externer Link und SVPExterner Link) den Bundesrat in Vorstössen um Aufklärung. Das Vorgehen der Bundesanwaltschaft im Fall Magnitski wirft ihrer Meinung nach ein schlechtes Licht auf die Schweizer Justiz. Die Aufsichtsbehörde erklärte daraufhin, dass sie den Fall beobachte und an ihrer Sitzung am 7. Dezember 2020 von der Bundesanwaltschaft in dieser Angelegenheit informiert worden sei.
Die BA unterstrich einerseits ihre Unabhängigkeit und verteidigte ihren Entscheid, das Verfahren wegen Geldwäscherei gegen Unbekannt einzustellen. Andererseits stellte sie aber auch klar, dass in Fällen, in denen ein Zusammenhang nachgewiesen werden könne zwischen den in der Schweiz beschlagnahmten Vermögenswerten und einer zuvor in Russland begangenen Straftat, eine Einziehung des Vermögens angeordnet wird.
Bill Browder ist von all dem nicht überzeugt: «Ich denke, Patrick Lamon nutzt die Tatsache aus, dass er momentan keinen Vorgesetzten hat, um zu versuchen, diesen Fall abzuschliessen, bevor ein neuer Bundesanwalt übernimmt.» Ein neuer Chef oder eine neue Chefin der BA wird aber bald kommen. Vielleicht ist diese neue Figur sogar Maria-Antonella Bino, also diejenige, die vor zehn Jahren mit den Ermittlungen im Fall Magnitski begonnen hatte.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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