Shitstorm oder ein diplomatisches Lächeln zu viel in Moskau
Im Ukraine-Krieg ringt das IKRK nicht nur um Lösungen zum Schutz der verletzlichen Zivilbevölkerung. Sondern auch gegen Fake News – und das in einem "nie dagewesenen Ausmass".
In den letzten Wochen war das Internationale Rote Kreuz (IKRK) Opfer von «gezielten Angriffen», bei denen über soziale Medien Falschinformationen gestreut wurden, um die Arbeit der humanitären Organisation zu diskreditieren.
«Es ist nicht das erste Mal, dass wir die verheerenden Auswirkungen von Fake News spüren», sagte IKRK-Generaldirektor Robert Mardini gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS. «Aber ein Ausmass wie in diesem Fall hatten wir noch nie. Es ist sehr besorgniserregend, dass das IKRK auf diese Weise instrumentalisiert wird.» Das in Genf ansässige IKRK gab nicht an, wen es hinter den Angriffen vermutet.
>>> Interview mit IKRK-Generaldirektor Robert Mardini auf RTS (auf Französisch):
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist eine internationale humanitäre Organisation, die 1863 gegründet wurde.
Obwohl das IKRK seinen Sitz in Genf hat, ist es mit seinen über 20 000 Mitarbeitern in rund 100 Ländern tätig. Zu den Mitarbeiter:innen gehören Ärzte, Ingenieurinnen, Fahrer:innen, Politikexpert:innen und Übersetzer:innen.
Das IKRK hat gemäss humanitärem Völkerrecht (HVR) den Auftrag, die Opfer bewaffneter Konflikte zu schützen und zu unterstützen. Das IKRK liefert Hilfsgüter wie Lebensmittel, Wasser und medizinische Versorgung an die Bedürftigen, unabhängig davon, auf welcher Seite des Konflikts sie stehen.
Es hilft auch, Kinder, die während eines Konflikts von ihren Familien getrennt wurden, wieder mit ihren Eltern zusammenzuführen, und überprüft, ob Kriegsgefangene menschenwürdig behandelt werden.
Als Hüter der Genfer Konventionen fördert das IKRK die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und dessen Umsetzung in nationales Recht. Seine Arbeit wird von den Grundsätzen der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit geleitet. Es arbeitet mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in der ganzen Welt zusammen.
Stein des Anstosses waren Bilder, auf denen IKRK-Präsident Peter Maurer und der russische Aussenminister Sergej Lawrow bei einem Treffen in Moskau zu sehen sind. Sie schütteln sich die Hände und lächeln dabei. In den sozialen Medien sorgte dies für Empörung.
Warum trifft sich das IKRK mit der russischen Regierung, fragten sich viele. Einige User, welche die Beiträge teilten, behaupteten, das IKRK habe durch seinen Besuch den Einmarsch in der Ukraine quasi legitimiert.
Doch das IKRK ist eine neutrale und unparteiische Hilfsorganisation, deren Arbeit weltweit auf dem humanitären Völkerrecht basiert. Es muss mit allen Kriegsparteien sprechen, um sie zur Einhaltung der Regeln aufzufordern und dafür zu sorgen, dass seine Mitarbeitenden sicher zu den Hilfsbedürftigen gelangen. Oder wie eine Schweizer Zeitung schrieb: Das IKRK müsse in absoluten Krisensituationen «selbst mit dem Teufel sprechen».
«Es gibt immer ein diplomatisches Lächeln. Das bedeutet aber nicht, dass wir den Dialog nicht mit Stärke führen und die Konfliktparteien in die Pflicht nehmen», sagte Mardini gegenüber RTS.
Was viele in den sozialen Medien nicht sahen: Vor dem Treffen mit Lawrow war Maurer in Kiew gewesen, um mit der ukrainischen Führung zu sprechen.
Sichere Zugänge haben Priorität
Viele Kritiker fragten auch, warum das IKRK die russische Invasion bislang nicht verurteilt habe. Einige Menschen, darunter zahlreiche Ukrainer:innen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, sind frustriert über die Haltung. Sie kritisieren auch, dass die Organisation bislang davon abgesehen hat, den Angriff als Krieg zu bezeichnen – stattdessen zieht das IKRK den Begriff Konflikt vor.
Und sollte das IKRK als Hüter der Genfer Konvention nicht auch Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht anprangern – zum Beispiel den Abwurf von Streubomben auf bewohnte Gebiete? Selbst Karim Khan, Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), sagte, es gebe «eine vernünftige Grundlage für die Annahme, dass in der Ukraine sowohl mutmassliche Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden sind.»
Gespräche hinter den Kulissen, Hilfe vor Ort
Tatsache ist aber, dass es nicht Aufgabe des IKRK ist, mutige Erklärungen abzugeben. Stattdessen muss es sich um sichere Zugänge zu Orten bemühen, wo Hilfe benötigt wird, und zwar auf beiden Seiten. Dazu gehören auch Gefängnisse, wo Kriegsgefangene festgehalten werden. Durch ihre Arbeit erfahren Mitarbeiter:innen oft auch hochsensible Informationen, welche die Regierungen geheim halten wollen. Damit sie Zugang erhalten, müssen die Konfliktparteien dem IKRK vertrauen.
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Streubomben bleiben eine tödliche Gefahr
Die Logik ist, dass Opfer besser geschützt werden können, wenn der Dialog mit den Konfliktparteien vertraulich ist. Nur wenn dieser Ansatz nicht funktioniert, kann das IKRK öffentlich zu einer Situation Stellung nehmen. Aber insgesamt bemüht es sich, einseitige Verurteilungen zu vermeiden.
Im April 1994, kurz nach dem Beginn des Völkermords in Ruanda, rief das IKRK die Parteien öffentlich dazu auf, dem «Gemetzel», dem «Massaker» und der «menschlichen Tragödie» ein Ende zu setzen, verzichtete aber aus Gründen der Sicherheit seiner Helfer:innen auf den Begriff «Völkermord».
Und es ist nicht so, als würde das IKRK nicht Kritik üben. Zur Lage in Mariupol sagte Mardini gegenüber RTS: «Die Situation ist unerträglich, die Kämpfe gehen weiter. Vor ein paar Wochen haben wir bereits gesagt, dass die Situation inakzeptabel und für die Zivilbevölkerung unerträglich ist. Das ist auch heute noch der Fall, und es gibt weder sichere Evakuierungen von Zivilisten noch humanitäre Hilfe, die nach Mariupol gelangen kann. Die Lage ist also noch immer sehr besorgniserregend.»
Falschmeldungen klar und sofort dementiert
Nach Maurers Besuch in Moskau wurde in den sozialen Medien auch der Vorwurf laut, dass das IKRK über die Einrichtung eines Flüchtlingslagers in Südrussland verhandelt habe.
Das IKRK stellte klar, dass keine derartigen Pläne bestünden und stattdessen über die Eröffnung eines Büros in Rostow am Don diskutiert wurde. Dies sei Teil einer «grossen regionalen Ausweitung», um auf humanitäre Bedürfnisse dort zu reagieren, wo sie entstehen. Das IKRK verfügt über Teams in Nachbarländern der Ukraine wie Belarus, Ungarn, Moldawien, Polen und Rumänien.
Aufgabe des IKRK ist es auch, Familien, die im Krieg getrennt wurden, zusammenzuführen und dafür zu sorgen, dass die Leichen toter Soldaten mit Würde behandelt und ihren Angehörigen übergeben werden. Auch dies erfordert eine Präsenz auf beiden Seiten des Krieges.
Ringen um Lösungen
Einige Menschen prangern auch das Handeln des IKRK an oder vielmehr seine vermeintliche Untätigkeit vielerorts. Sie fragen, warum die Zivilbevölkerung ihr Leben riskiert, um aus Mariupol zu fliehen, wo Tausende ohne Zugang zu Strom, Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten eingeschlossen bleiben. Warum ist noch keine Hilfe in der belagerten Stadt angekommen?
Die Antwort ist, dass das IKRK den Bombenabwurf nicht verhindern kann. Es kann nicht dafür sorgen, dass die Zivilbevölkerung sicher fliehen und Hilfskonvois einreisen können. Im März ermöglichte das IKRK aber zusammen mit dem Ukrainischen Roten Kreuz zwei sichere Evakuierungen: Tausende von Zivilisten konnten so die Stadt Sumy in Richtung Lubny in der Ukraine verlassen.
Das IKRK hat den russischen und ukrainischen Behörden detaillierte Vorschläge für eine sichere Ausreise aus Mariupol übermittelt, aber keine Seite konnte sich auf die Bedingungen einigen. Wenn eine Einigung erzielt wird, müssen die Kriegsparteien die Modalitäten einhalten. Dazu gehören die genaue Route, der Zeitpunkt des Beginns und die Dauer des Einsatzes. Die Rolle des IKRK besteht darin, den zivilen Konvoi zu begleiten und die Soldaten auf beiden Seiten daran zu erinnern, dass eine humanitäre Operation im Gange ist.
Flurschaden ist angerichtet
In den sozialen Medien kursierten auch Behauptungen, das IKRK sei an Zwangsevakuierungen aus der Ukraine nach Russland beteiligt gewesen. Das IKRK hat nachdrücklich bestritten, jemals eine Operation gegen den Willen der Bevölkerung unterstützt zu haben, da dies einen Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen würde.
Ob beabsichtigt oder nicht, Fehlinformationen stellen eine direkte Bedrohung für das IKRK und die Kriegsopfer dar. Wie Mardini betonte, lenken sie auch die Aufmerksamkeit von dem ab, was eigentlich wichtig ist: «Die Verpflichtung der Konfliktparteien, die Zivilbevölkerung zu respektieren und zu schützen und den humanitären Helfern zu ermöglichen, ihre Arbeit zu tun.»
(Übersetzt aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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