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Lebewohl Schweizer Neutralität!

Daniel Warner

Politikanalyst Daniel Warner geht der Frage nach, ob die Weigerung Russlands, die Schweiz als Vermittlerin mit der Ukraine auftreten zu lassen, das Ende einer Ära für das Alpenland bedeutet.

Wenn man so ist, wie andere einen sehen, dann könnte die Schweiz in der Frage, was ihr Neutralität bedeutet, einen Wendepunkt erreicht haben. So sagte ein Sprecher des russischen Aussendepartementes erst kürzlich, dass «die Schweiz leider ihren Status als neutraler Staat verloren hat».

Es ist eine Sache, wenn die 200 Jahre alte «immerwährende Neutralität» der Schweiz, die auf dem Wiener Kongress 1815 beschlossen wurde, intern in Frage gestellt wird. Aber wenn eine Grossmacht, ein ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, eine solche Erklärung abgibt, erhält die laufende Diskussion über die Bedeutung der Neutralität im In- und Ausland eine neue Dimension.

Gibt es angesichts des NATO-Beitritts der traditionell neutralen Länder Schweden und Finnland noch Raum für ein Land wie die Schweiz, eine neutrale Position zu wahren?

Die Erklärung von Iwan Nechajew vom russischen Aussenministerium deutet darauf hin, dass sich dieser Raum schliesst, obwohl die Schweiz traditionell mit ihrer Neutralität und ihren guten Diensten eine wichtige Rolle gespielt und unter anderem Georgien in Moskau und Russland in Tiflis vertreten hat. Auch zum  Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation hat die Schweiz entscheidend beigetragen.

Doch dann lehnte Russland Mitte August den Vorschlag der Schweiz ab, die Interessen der Ukraine in Russland zu vertreten, weil «Bern sich den illegalen westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat».

Völkerrecht schlägt Neutralität

Als sich der Schweizer Bundesrat im März den europäischen Sanktionen anschloss, erklärte er, dass er «die Neutralität und die friedenspolitischen Erwägungen der Schweiz berücksichtigt hat… Der beispiellose militärische Angriff Russlands auf ein souveränes europäisches Land gab den Ausschlag für den Entscheid des Bundesrats, seine bisherige Haltung zu den Sanktionen zu ändern.

Die Verteidigung von Frieden und Sicherheit und die Achtung des Völkerrechts sind Werte, die die Schweiz als demokratisches Land mit ihren europäischen Nachbarn teilt und unterstützt.»

Ist die Achtung des Völkerrechts ein Wert, der die Neutralität übertrumpft? Für den Bundesrat ist er es. Die Achtung des Völkerrechts hat für die Schweiz und ihre Rolle im Multilateralismus Vorrang.

Genf ist Sitz zahlreicher zwischenstaatlicher Institutionen und Hunderter von Nichtregierungsorganisationen. Der Schweizer Entscheid, sich den europäischen Sanktionen gegen Russland anzuschliessen, zeigt, dass die Schweiz gewisse Werte höher gewichtet als die politische Neutralität. Die rechtliche Neutralität hingegen würde es der Schweiz verbieten, einem Verteidigungsbündnis beizutreten oder sich an einem bewaffneten Konflikt zu beteiligen.

Das Ende einer Ära

Die russische Weigerung, der Schweiz zu erlauben, ihre guten Dienste zu nutzen, um gegenüber der Ukraine «entweder als Vermittler oder als Vertreter» aufzutreten, steht im Widerspruch zu einer grossen Tradition. Die Schweiz übt derzeit mehrere solcher Mandate aus, das bekannteste ist die Vertretung der Interessen der Vereinigten Staaten im Iran.

Die Erklärung des russischen Aussenministeriums heizt zwar die internen Debatten in der Schweiz an – siehe den jüngsten NeutralitätsberichtExterner Link der Regierung –, wirft aber auch die Frage auf, ob Neutralität, Achtung des humanitären Völkerrechts und Multilateralismus nach dem Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar überhaupt noch möglich sind.

Die Schweiz hat versucht, sich während des Konflikts auf einem schmalen Grat zu bewegen, ebenso wie viele der 35 Länder, die sich bei der Abstimmung der UNO-Generalversammlung zur Verurteilung Russlands – anders als die Schweiz – der Stimme enthalten haben. Die jüngsten Äusserungen aus dem Kreml deuten darauf hin, dass dieser schmale Grat immer schmaler wird.  

Editiert von Veronica de Vore/ilj
Ins Deutsche übertragen von Marc Leutenegger

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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