Kritik an Behörden nach der Minarettabstimmung
Nach Ansicht von Politbeobachter Oswald Sigg haben die Behörden die Anti-Minarett Initiative viel zu schnell zur Abstimmung vorgelegt und somit zum überraschenden Ausgang beigetragen.
Sigg kritisiert auch Wortmeldungen einzelner Bundesratsmitglieder nach der Abstimmung, und warnt vor dem möglichen Schaden, den Wählerumfragen anrichten am System der direkten Demokratie.
Er sieht aber auch Positives: Das sehr überraschende Resultat der Abstimmung führe zu einer Debatte über Integration und das politische Mitspracherecht der Bürgerinnen und Bürger.
Das Schweizer Stimmberechtigen nahmen zum allgemeinen Verblüffen am 29. November einen Vorschlag aus rechtsnationalen und ultrareligiösen Kreisen an, den Bau von Minaretten zu verbieten.
Sigg war bis zu seiner Pensionierung im April 2009 offizieller Sprecher der Schweizer Regierung.
Heute schreibt Sigg regelmässige Kolumnen für eine renommierte Sonntagszeitung.
swissinfo.ch: Sahen Sie als aufmerksamer Politbeobachter und Insider der Bundesverwaltung die Überraschung kommen?
Oswald Sigg: Nein überhaupt nicht. Aber ich war immer ein ausgesprochen schlechter Prognostiker und konnte nie in die Volksseele schauen kann.
Aber ich wunderte mich, als ich mehrmals von Familienangehörigen hörte, in ihrem Umfeld hätten viele Leute offen gesagt, sie würden für das Minarett-Verbot stimmen.
Ich glaubte, dass sei übertrieben. In meiner Beurteilung verliess ich mich auf die Diskussionen, die in Bundesrat und Verwaltung stattfanden zu diesem Thema, und die ich als Sprecher miterlebte.
Der Bundesrat argumentierte vor einem Jahr unter anderem, man könne es sich aus aussenpolitischen Gründen nicht leisten, eine Grundsatzdiskussion über den Islam zu führen anhand dieser Initiative.
swissinfo.ch: Ein verhängnisvoller Fehler?
O.S.: Es war sicher falsch, die Initiative möglichst schnell zur Abstimmung zu bringen. Aber leider ist man erst im Nachhinein klüger.
Das überstürzte Handeln machte offenbar skeptisch und man fragte sich, warum der Bundesrat eine breite Diskussion verhindern will.
Normalerweise dauert es bis zu drei Jahren nach der Einreichung der Unterschriften bis eine Initiative zur Volksabstimmung kommt.
Man hätte besser wohl eine breite Diskussion über alle Fragen im weitesten Kontext dieser Initiative – bis zum Tragen des Kopftuchs – zugelassen. Aber in der Bundesverwaltung, auch im Parlament, fürchtete man, damit den Initianten nur ein Forum für ihre Propaganda zu bieten.
swissinfo.ch: Wie werten Sie die öffentliche Reaktion nach der Abstimmung?
O.S.: Die Reaktion in den Leserbriefen, die Stimmen von der Strasse ermutigen mich. Jetzt kommt vielleicht genau jene Diskussion in Gang, welche der Bundesrat im Vorfeld der Abstimmung eigentlich verhindern wollte.
Man vernimmt verschiedenste Meinungen, aber erfreulich ist, dass es kaum ernsthafte Stimmen gibt, die sich weigern, das Resultat der Abstimmung zu akzeptieren.
Man wehrt sich für die direkte Demokratie und dessen Kernstück, die Volksinitiative.
swissinfo.ch: Sind Sie auch der Meinung, dass eine Abstimmung zum Thema Minarett-Verbot auch in anderen europäischen Länder zum ähnlichen Resultat geführt hätte?
O.S.: Ich denke schon. Bei einem kürzlichen Besuch in Berlin bin ich ziemlich erschrocken, welch gehässiger und rassistischer Ton dort – auch in offiziellen Kreisen – herrscht bei Diskussionen um Islamismus und Integration.
Aber unsere direkte Demokratie, wie Bürgerinnen und Bürger politische Fragen entscheiden, ist einzigartig. Das Ausland beneidet uns.
swissinfo.ch: Soll denn in der Schweiz über jede Initiative abgestimmt werden. Braucht es nicht eine bessere Vorprüfung?
O.S.: Meines Wissens verletzt die Minarett-Initiative nicht den Kern der Religionsfreiheit. Aber auch unter Fachleuten war man da geteilter Meinung und im Zweifelsfall hat man richtigerweise entschieden, die Initiative zur Abstimmung zu bringen.
Das Minarett-Verbot ist ein Grenzfall, aber es überschreitet die Linie weder rechtlich, noch politisch-moralisch.
swissinfo.ch: Markiert die Abstimmung einen Zeitenwechsel?
O.S.: Ich sehe es eher als Wende in der Geschichte der Abstimmungen, weil das Volk ganz überraschend und deutlich gegen den Willen von Regierung und Parlament gestimmt haben.
Jetzt beginnt eine breite Diskussion über Islam und Integration in der Schweiz – und einmal mehr über die direkte Demokratie. Das ist gut.
Wenn Bundespräsident Hans-Rudolf Merz sagt, man müsse sich überlegen, ob alle Volksinitiativen zur Abstimmung kommen sollen, so rührt das aber an die Fundamente unserer Abstimmungsdemokratie.
Ich war auch sehr irritiert, wie sich die Aussenministerin nach der Abstimmung quasi öffentlich entschuldigte für den Volksentscheid.
swissinfo.ch: Hat die Abstimmung vielleicht eine gute Seite?
O.S.: Sicher. Es folgt jetzt eine breite Diskussion über den Islam und über die direkte Demokratie im allgemeinen. Das sage ich, obwohl ich die Forderungen und politischen Absichten der Initianten, – ein rechtsextremer Anti-Islamismus – in aller Form ablehne.
Solche gefährliche Strömungen kann man nur reduzieren mit einem Dialog über die Religionsgrenzen hinweg.
Das Abstimmungsresultat hat dann etwas sehr gutes bewirkt, wenn man miteinander über Integration spricht und gemeinsam nach Lösungen sucht.
swissinfo.ch: Welche Rolle spielten Wählerumfragen, die doch zumindest in einem Falle, spektakulär danebenlagen?
O.S.: Ich finde, Umfragen und Trendmeldungen im Vorfeld von Abstimmungen gehören nicht zu unserer Demokratie. Wir können ja abstimmen, da brauchen wir nicht noch Umfragen, die uns sagen, wie angeblich das Volk denkt.
Abstimmungsumfragen können demotivierend wirken für die Stimmberechtigten und sie können Abstimmungen verfälschen.
Alle beteiligen Kreise sollten sich darauf einigen, nur noch bis fünf Wochen vor einer Abstimmung – wenn die Abstimmungsdiskussion beginnt – Umfrageergebnisse zu veröffentlichen.
Urs Geiser und Federico Bragagnini, swissinfo.ch
Sigg, geboren in Zürich 1944, war während seiner dreissigjährigen Berufslaufbahn Sprecher von insgesamt fünf Bundesräten:
Den drei Sozialdemokraten Willy Ritschard, Otto Stich und Moritz Leuenberger, sowie den SVP Vertretern Adolf Ogi und Samuel Schmid.
Ab 2005 und bis zu seiner Pensionierung im Frühling 2009 war Sigg, selber Mitglied der sozialdemokratischen Partei, Bundesratssprecher und damit Vizekanzler der Eidgenossenschaft.
Ende der achtziger Jahre war Sigg Chefredaktor der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA). Von 1991 bis 1997 amtete er als Sprecher der Schweizerischen Radio und Fernsehgesellschaft (SRG), zu der auch swissinfo gehört.
Sigg studierte Soziologie und Wirtschaft an den Universitäten von St. Gallen, Bern und in Paris. Seine Dissertation schrieb Sigg zum Thema Volksinitiativen.
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