10 Fragen zur Selbstbestimmungs-Initiative
Eine Volksinitiative will die Schweizer Bundesverfassung über das Völkerrecht stellen. Die Initianten wollen damit nach eigenen Angaben die Demokratie stärken. Gegner kritisieren, die Menschenrechte stünden auf dem Spiel. swissinfo.ch hat die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengestellt.
In der Frühlingssession debattiert das Schweizer Parlament über die Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungs-Initiative)Externer Link» der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Sie regelt das Verhältnis von Schweizer Landesrecht zum Völkerrecht.
Wird bei Annahme der Initiative die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gekündigt?
Gegner der Vorlage argumentieren, die SVP habe es auf eine Kündigung der EMRK abgesehen. Die SVP bestreitet das. Die Vorlage sieht nicht explizit eine Kündigung der EMRK vor. Aber: Wenn ein völkerrechtliches Abkommen der Schweizer Verfassung widerspricht, soll die Schweiz den völkerrechtlichen Vertrag anpassen oder notfalls kündigen. Wenn beispielsweise der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in einem Urteil zum Schluss kommen würde, dass das Minarett-Verbot in der Schweizer Verfassung der Religionsfreiheit in der EMRK widerspricht, so müsste als letzte Konsequenz wohl die EMRK gekündigt werden – eine Modifizierung der EMRK ist nicht denkbar. Ab wann konkret eine Kündigung in die Wege geleitet werden soll, lässt die Initiative allerdings offen. Somit steht eine Kündigung nicht unverrückbar fest – andere Länder ignorieren die Urteile des EGMR einfach.
Gelten bei Annahme der Initiative keine Menschenrechte mehr in der Schweiz?
Doch. Erstens enthält die Schweizer Bundesverfassung einen fast identischen Katalog von Grundrechten wie die EMRK. Zweitens würden die Menschenrechte der beiden UNO-Pakte (sofern sie nicht gekündigt würden) im Streitfall weiterhin vorgehen, denn diese unterstanden dem Referendum. Gegner der Initiative argumentieren, dass eine Annahme der Initiative den Menschenrechtsschutz schwächen würde. Sie gehen davon aus, dass die EMRK im Einzelfall nicht mehr anwendbar wäre oder gar gekündigt würde und die Einwohner der Schweiz folglich nicht mehr an den EGMR in Strassburg gelangen könnten. Die Rechtsprechung des EGMR hatte bisher grossen Einfluss auf das Schweizer Recht.
Die EMRK wurde nie dem Referendum unterstellt. Kann dieser demokratische Mangel nachträglich behoben werden?
Theoretisch könnte die Schweiz die EMRK kündigen und anschliessend neu ratifizieren, wobei sie die Konvention dem Referendum unterstellen könnte. Ob dieses Szenario praktikabel ist, steht auf einem anderen Blatt.
Was ist der Unterschied zwischen der Initiative und dem Gegenvorschlag?
Die Initiative will dem Landesrecht grundsätzlich Vorrang vor dem Völkerrecht geben. Der Gegenvorschlag will am grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts festhalten, aber eine Ausnahme zulassen: Wenn das Parlament bewusst ein völkerrechtswidriges Gesetz erlassen hat, das aber nicht gegen Menschenrechte verstösst, so wendet das Gericht das nationale Gesetz an. Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts.
Wer entscheidet, ob der Gegenvorschlag vors Volk kommt?
Das Schweizer Parlament. Am 13. März debattiert die kleine Parlamentskammer als erstberatender Rat über Initiative und Gegenvorschlag.
Wie ist denn eigentlich heute das Verhältnis von Landesrecht zu Völkerrecht geregelt?
Die Rechtslage ist unübersichtlich. Grundsätzlich gilt in der Schweiz Völkerrecht direkt. Eine Umsetzung mittels nationalem Gesetz ist nicht nötig. Auch ist klar, dass die Schweiz völkerrechtliche Verträge einhalten sollte, respektive bei einem Vertragsbruch im Aussenverhältnis die Konsequenzen tragen muss. Unbestritten steht in der Schweiz das zwingende Völkerrecht (beispielsweise Verbot von Folter, Sklaverei oder Angriffskriegen) hierarchisch über allem anderen Recht. Was bei einem Widerspruch zwischen «gewöhnlichem» Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz geschieht, ist jedoch nicht klar geregelt. Das Bundesgericht interpretiert die schwammig formulierte Schweizer Verfassung dahingehend, dass Völkerrecht grundsätzlich Vorrang hat, akzeptiert aber gewisse Ausnahmen zugunsten des Landesrechts: Wenn das Parlament bewusst ein völkerrechtswidriges Gesetz erlassen hat, so wendet das Gericht dieses an – es sei denn, das Gesetz verstosse gegen Menschenrechte.
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Folgt die Schweiz dem Beispiel Russlands?
Was gälte neu bei Annahme der Initiative?
Vieles lässt die Initiative unverändert, so beispielsweise den absoluten Vorrang des zwingenden Völkerrechts oder die fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit – Richter müssen verfassungswidrige Bundesgesetze weiterhin anwenden.
Neu soll aber nicht das Völkerrecht einen «grundsätzlichen Vorrang» beanspruchen, sondern das Landesrecht. Im Streitfall sollen zwar weiterhin Bundesgesetze und Völkerrecht «massgebend» sein – nicht die Verfassung, was den Vorrang von Landesrecht bereits wieder relativiert – jedoch mit der Einschränkung, dass die völkerrechtlichen Verträge dem Referendum unterstanden haben müssen. Unbeantwortet lässt die Initiative also auch weiterhin die Frage, ob das Gericht bei einem Widerspruch zwischen einem nationalen Gesetz und einem völkerrechtlichen Vertrag, der dem Referendum unterstanden hat, das Gesetz oder das Völkerrecht anwenden soll.
Neu soll bei einem Widerspruch zwischen Verfassung und Völkerrecht die Schweiz die völkerrechtlichen Verträge ändern oder kündigen.
Wie regeln andere Länder das Verhältnis von nationalem Recht zu internationalen Verträgen?
In FrankreichExterner Link haben internationale Abkommen eine höhere Rechtskraft als französische Gesetze – sofern die anderen Vertragsparteien sich auch an den Vertrag halten. In den NiederlandenExterner Link hat ebenfalls das Völkerrecht Vorrang vor dem nationalen Recht. Das englische Recht hingegen hat grundsätzlich Vorrang vor Völkerrecht. Und in Russland hat das Verfassungsgericht 2015 beschlossenExterner Link, dass das nationale Recht Vorrang vor Völkerrecht hat.
In DeutschlandExterner Link hat das Völkerrecht grundsätzlich Vorrang vor nationalen Gesetzen. Mit einer Ausnahme: Völkerrechtliche Verträge, welche die politischen Beziehungen von Deutschland regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, bedürfen eines «Zustimmungsgesetzes». Diese Abkommen haben in der Folge keinen Vorrang, sondern stehen auf gleicher Stufe wie ein gewöhnliches deutsches Gesetz.
In manchen Ländern (u.a. Finnland, Dänemark) ist Völkerrecht generell nur dann direkt anwendbar, wenn es mit einem nationalen Gesetz umgesetzt wurde. Eine völkerrechtliche Vereinbarung muss also immer nochmals im nationalen Recht abgedruckt werden – und hat den gleichen Rang wie normale Gesetze.
Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungs-Initiative)»
Die Selbstbestimmungs-InitiativeExterner Link der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sieht mehrere Änderungen der Verfassung vor. Unter anderem:
- Neu ist die Schweizer Verfassung explizit oberste Rechtsquelle der Schweiz.
- Die Schweizer Verfassung steht neu über dem Völkerrecht und geht ihm vor – mit Ausnahme der zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts (beispielsweise Verbot von Folter, Sklaverei oder Angriffskriegen).
- Die Schweiz darf keine völkerrechtlichen Verpflichtungen eingehen, die der Verfassung widersprechen.
- Bei einem Widerspruch zwischen Verfassung und Völkerrecht soll die Schweiz die völkerrechtlichen Verträge ändern oder kündigen. Auch hier mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts: dieses bleibt weiterhin unantastbar.
- Neu sollen für die Gerichte nur noch jene völkerrechtlichen Verträge, die in der Schweiz dem Referendum unterstanden haben, massgebend sein.
Was würde eine Annahme der Initiative für die internationalen Beziehungen der Schweiz bedeuten – besonders zur EU?
Kritiker fürchtenExterner Link, die Schweiz werde bei Annahme der Initiative zu einem unzuverlässigen Vertragspartner, weil sie das Völkerrecht nicht mehr einhalte. Insbesondere eine Kündigung der EMRK zöge einen enormen Imageschaden nach sich und habe eine verheerende Signalwirkung auf andere Länder. Würde die Schweiz die Urteile des EGMR nicht umsetzen, könnte sie sich Probleme mit dem EuroparatExterner Link und entsprechende SanktionenExterner Link einhandeln.
Besonders das Verhältnis zur EU ist betroffen: Laut Kritikern sähe sich der Bundesrat gegebenenfalls gezwungen, die Bilateralen I und II zu kündigen, sofern die Verhandlungen mit der EU bezüglich Masseneinwanderungsinitiative scheitern.
Manche Gegner sehen auch den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz gefährdet, da die Exportwirtschaft auf internationale Abkommen angewiesen ist, die den Zugang zu fremden Märkten gewährleisten.
Warum hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) diese Volksinitiative lanciert?
Die Informationskampagne «Schutzfaktor M» behauptetExterner Link, die Initianten wollten die Kündigung der EMRK erreichen, ohne dass darüber abgestimmt werde. Nach Angaben der SVP hat Anlass zur Initiative ein umstrittenes Bundesgerichtsurteil gegeben, wonach jede völkerrechtliche Vereinbarung – und nicht bloss das zwingende Völkerrecht oder Menschenrechte – dem Landesrecht vorgeht. Die rechtskonservative Partei will die angebliche «Entmachtung des Schweizer Volkes» stoppen.
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