Was Doris Leuthard uns wirklich sagen wollte
Doris Leuthard hat ihren Rücktritt aus dem Bundesrat auf Ende Jahr bekanntgegeben. Am Donnerstagvormittag trat sie vor die Medien. «Aufgewühlt» habe sie «mit den Tränen gekämpft», wurde berichtet.
Ist zu hoffen, dass das Wasser in den Augen der Helvetia nicht den Blick auf das verstellt, was die amtsälteste Bundesrätin sehr deutlich angemahnt hat: «Unser Land steht stark da, aber es ist verletzlicher geworden». Gemeint hat sie die internationale Interdependenz.
Themen werden komplexer
Die äusseren Kräfte beeinflussen die Schweizer Politik sehr stark, ergänzte Leuthard. «Es ist ein Trugschluss zu glauben, wir können alles selbst steuern.» Die Schweiz sei mannigfaltigen Auswirkungen von aussen ausgesetzt. Der Bundesrat wie das Parlament müssten sich noch mehr in komplexe Themen einarbeiten und diese Ausseneinwirkung auf unser Land stetig in die Lösungsfindung einbinden.
Leuthard appelliert hier an eine Nation notabene, die eigentlich sehr früh erkannte, was in der globalisierten Welt zur Notwendigkeit geworden ist: Beziehungen pflegen, Verbundenheit ausstrahlen und Verbindlichkeit schaffen. Als Willensnation mit vier Sprachregionen liegen Interessenausgleich und die Balance zwischen unterschiedlichen Ansprüchen und Kulturen in der DNA unseres Landes.
Auf diesem bewährten Fundament hat die Schweiz Rahmenbedingungen geschaffen, die sich skalieren lassen. Und wenn auch durchaus ambivalent, so liegt eine der Stärken der Schweiz im interkulturellen Austausch. Die Schweiz hat eine Tradition in dem, was die globalisierte Welt von andern Ländern verlangt. Hier hatte sie eine Vorreiterrolle. Tempi passati?
«Einzigartigkeit ist kein Schweizer Monopol»
Die Schweiz hat den Sonderfall längst zum Dogma erhoben – das spiegelt vor allen Dingen Unsicherheit im Umgang mit den globalen Herausforderungen. Einen Spiegel vorgehalten hat der Schweiz kürzlich auch eine andere Frau, eine mit Gewicht auf internationalem Parkett: Ursula Plassnik, die österreichische Botschafterin in der Schweiz und frühere Aussenministerin unseres Nachbarlandes, sagt glasklar: «Wem es schwerfällt anzuerkennen, dass auch die Nachbarn jeweils ganz brauchbare politische Systeme haben, der hat auch weniger Motivation, an den grossen europäischen Zukunftsthemen mitzuwirken.»
Und sie fügt hinzu: «Einzigartigkeit ist kein Schweizer Monopol. Von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen hält sich jeder völlig zu Recht für einzigartig. Für einen Sonderfall eben. Von Afghanistan bis Zimbabwe.». Das lässt sich nicht einfach als Seitenhieb taxieren. Es sollte hellhörig machen, vor allem vor dem Hintergrund, dass Botschafter-Kritik am Gastland in diplomatischen Kreisen einen echten Tabubruch darstellt.
Sicher ist: Die Globalisierung, die immer dichter werdende internationale Verflechtung, verteilt Chancen und Risiken neu. Inzwischen mitunter in atemberaubendem Tempo. Novartis streicht rund 2000 Stellen in der Schweiz. Hier spielen Emotionalitäten keine Rolle. China hat seine Arme längst auch um die Schweiz gelegt. Leuthards Mahnung ist durchaus als Warnung zu verstehen: Für die Schweiz dürfte es dabei aufwendig sein, à jour zu bleiben, weil sie zwar zu den westlichen Staaten gehört, aber weder Mitglied der EU, der G20 noch der NATO ist.
In anderen Worten: Eine globale Vision der Schweiz, die internationale Vernetzung, sie müsste längst eine Überlebensstrategie der Schweiz sein. Die immer dichtere internationale Verflechtung von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur, bestimmt die Zukunft der Schweiz. Was bleibt?
Was bleibt, sind Bildung und Softpower
Was bleibt, ist die Ressource der Bildung und ihre Umsetzung in Innovation. Und Softpower. Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit, Sicherheit und Stabilität, Partizipation und Demokratie, der Rechtsstaat – das sind Stärken, welche die Geschichte der Schweiz uns zur Verfügung stellt. Das macht uns nicht einzigartig, die Voraussetzung für eine bedeutende Rolle in der internationalen Gemeinschaft sind mit der politischen Identität der Schweiz aber gegeben.
Und die Rolle der freien Medien ist dabei nicht hoch genug einzuschätzen. Was Doris Leuthard uns wirklich sagen wollte, war wohl weniger ein Dankeschön als: Nutzen wir unsere Unabhängigkeit als Stärke und Kraft. Und nutzen wir sie schnell.
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