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Liberia-Prozess: Was die Schweiz von Finnland lernen kann

Szene aus dem Bürgerkrieg in Liberia
In den beiden Bürgerkriegen Liberias wurden auf allen Seiten schwere Verbrechen begangen. In dem afrikanischen Land wurden bisher keine Kriegsverbrecher-Prozesse abgehalten. Aber europäische Länder, darunter die Schweiz, verfolgen einige Personen nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit. Keystone / Nic Bothma

Ein ehemaliger liberianischer Rebellenführer steht derzeit in der Schweiz wegen Kriegsverbrechen vor Gericht. Doch: Ein ähnliches Verfahren in Finnland kam viel schneller voran. Was hat das finnische Gericht anders gemacht? Hätte die Schweizer Justiz effizienter vorgehen können?

Die miteinander zusammenhängenden Bürgerkriege in Liberia und dem benachbarten Sierra Leone in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren haben die Region verwüstet. Sie hinterliessen Hunderttausende Tote, Millionen von Vertriebenen und waren gekennzeichnet durch Gräueltaten wie Verstümmelungen von Zivilisten, systematische Vergewaltigung, Kannibalismus, Entführung von Kindern und Einsatz von Kindersoldaten.

Weil Liberias Justiz nicht in der Lage ist, die Bürgerkriegs-Verbrechen zu ahnden, haben Nichtregierungs-Organisationen (NGO) den Opfern geholfen, Fälle in anderen Ländern unter dem Prinzip der «Universellen Jurisdiktion» vor Gericht zu bringen – darunter in der Schweiz, in Frankreich, Finnland und Belgien.

Die Fälle in der Schweiz und in Finnland wurden von einer in Genf ansässigen Schweizer NGO, Civitas MaximaExterner Link, zusammen mit ihrem liberianischen Partner, dem Global Justice and Research ProjectExterner Link, vorangetrieben.

Fast zwanzig Jahre nach den Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht der ehemalige liberianische Rebellenführer Alieu Kosiah in der Schweiz vor dem Bundesstrafgericht in BellinzonaExterner Link. Gleichzeitig steht der ehemalige Rebellenkommandant der Revolutionären Vereinigten Front (RUF) von Sierra Leone, Gibril Massaquoi, in Finnland vor GerichtExterner Link.

Alain Werner, Direktor von Civitas Maxima, sagt, die beiden Prozesse seien historisch. Und man solle beiden Gerichten dazu gratulieren, dass sie diese inmitten der Corona-Pandemie durchgeführt haben – mit all den Sicherheitsvorkehrungen, die das mit sich bringt.

«Bis jetzt, fast 20 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, haben keine Kriegsverbrecher-Prozesse gegen mutmassliche liberianische Täter in Liberia oder sonstwo stattgefunden. Nun ist es das erste Mal», sagt er. «Ich denke, es ist wichtig für Liberia und für die gesamte Region.»

Historisch in der Schweiz

Der Prozess ist auch ein Novum für die Schweiz. Es wird das erste Mal sein, dass ein ziviles Schweizer Gericht über ein internationales Verbrechen urteilt. Kosiah, der seit November 2014 in der Schweiz inhaftiert ist, ist wegen verschiedener Verbrechen angeklagt, darunter wegen Anordnung von Mord und grausamer Behandlung von Zivilisten, Vergewaltigung und Rekrutierung von Kindersoldaten während des ersten Bürgerkriegs in Liberia von 1989 bis 1996.

Der Prozess sollte ursprünglich im April 2020 beginnen, wurde aber wegen der Pandemie verschoben. Er begann schliesslich im Dezember und wurde in zwei Teile aufgeteilt. Der wichtigste Teil ist nun im Gang, mit Zeugenaussagen von etwa 15 Opfern sowie Zeuginnen und Zeugen, die aus Liberia eingeflogen wurden.

Zur gleichen Zeit hat in Finnland ein ähnlicher Prozess begonnenExterner Link, in dem Massaquoi beschuldigt wird, zwischen 1999 und 2003 in Liberia Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben.

Einige RUF-Führer in Sierra Leone hatten zu jener Zeit enge Verbindungen zur damaligen liberianischen Regierung unter Charles Taylor, einem verurteilten Kriegsverbrecher (für Verbrechen in Sierra Leone). Massaquoi wurde im März 2020 in Finnland verhaftet, nach Ermittlungen, die 2018 begannen.

Das finnische Gericht war nicht nur sehr schnell bereit für die Verhandlung, sondern reiste auch nach LiberiaExterner Link, um die Schauplätze zu besichtigen und Beweise aufzunehmen. Ein innovativer Ansatz. Es ist auch heute noch vor Ort. Später wird es nach Sierra Leone reisen, um auch dort Opfer und Zeugen anzuhören.

Die universelle Gerichtsbarkeit erlaubt es Staaten, Ausländerinnen und Ausländer für internationale Verbrechen (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) strafrechtlich zu verfolgen, egal, wo diese stattgefunden haben. Für diese Verbrechen, die als die schwersten angesehen werden, gibt es keine Verjährungsfrist.

Solche Fälle sind komplex und können Ermittlungen an entlegenen und schwer zugänglichen Orten erfordern. Aber laut dem jüngsten Jahresbericht der Schweizer NGO Trial International zur universellen Gerichtsbarkeit (Universal Jurisdiction Annual Review) sind solche Prozesse weltweit auf dem Vormarsch.

In Europa nutzen eine Reihe von Ländern zunehmend das Prinzip, um internationale Verbrechen zu verfolgen, vor allem dann, wenn es in dem betreffenden Land keine nationale Justiz dafür gibt. Dies ist namentlich für Syrien, aber auch für Liberia der Fall.

Die Schweiz hat das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit im Jahr 2011 in die nationale Gesetzgebung aufgenommen. Die Bundesanwaltschaft (BA), die für die Ermittlungen zuständig ist, hat eine Reihe von Fällen am Laufen. Aber der Liberianer Alieu Kosiah, der im November 2014 in der Schweiz verhaftet wurde, ist der erste, der vor Gericht gestellt wird.

Die Schweiz hält auch den ehemaligen gambischen Innenminister Ousman Sonko fest, der im November 2017 verhaftet wurde, während die BA die Vorwürfe gegen ihn wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter untersucht.

NGO sagen, die Schweiz müsse das Tempo erhöhen. Die BA sei für Kriegsverbrecher-Untersuchungen unterdotiert, besonders im Vergleich zu Ländern wie Frankreich und Deutschland. Diese haben eine gemeinsame Einheit eingerichtet, um bei einigen Fällen zusammenzuarbeiten.

Konservative Schweiz

Die beiden Prozesse finden zur gleichen Zeit statt, weshalb sich ein Vergleich aufdrängt. Es sei noch zu früh, die Ergebnisse der Prozesse zu vergleichen, sagt Thierry Cruvellier, Redaktor der Website Justiceinfo.netExterner Link der Schweizer NGO Fondation Hirondelle (Aus Gründen der Transparenz: Die Autorin dieses Artikels trägt auch zu dieser Website bei). Er fügt aber hinzu, die Vorverhandlungen würden bereits «zwei unterschiedliche Arbeitsmethoden und Geschwindigkeiten» aufzeigen.

Die Finnen brachten den Fall etwa zweieinhalb Jahre nach Beginn der Ermittlungen und nur ein Jahr nach Massaquois Verhaftung vor Gericht, während die Schweizer im Fall Kosiah viel länger gebraucht haben. Ausserdem ist das finnische Ermittlerteam mehrmals nach Liberia gereist, was die Schweizer nie getan haben.

Das finnische Gericht hält nun einen wichtigen Teil des Prozesses in Liberia ab. «Das stellt die Schweizer ein wenig in den Schatten», sagt Cruvellier, der derzeit in Liberia ist und dem finnischen Prozess folgt. «Zumindest wirft es ernste Fragen über ihre Verzögerungen und Behauptungen auf, dass sie in Liberia nicht ermitteln konnten.»

Auf Nachfrage antwortete die Schweizer Bundesanwaltschaft (BA), die Ermittlungen und Strafverfolgung übernommen hat: «Aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen und Systeme sehen wir von Vergleichen mit anderen Ländern ab. Generell verfolgt die BA die Entwicklungen im internationalen Strafrecht auf Ebene der Staaten und auf Ebene der internationalen Gerichtshöfe sehr genau.»

Finnland als Vorbild?

Die Schweizer seien aber nicht die einzigen, die langsam seien, sagt Cruvellier. Belgien verfolgt ebenfalls einen Fall, der mit Kriegsverbrechen in Liberia zusammenhängt. Doch fast sieben Jahre nach der Eröffnung der Untersuchung hat immer noch kein Prozess begonnenExterner Link. Nur die Franzosen, die gegen einen 2018 verhafteten Liberianer ermitteln, haben wie die Finnen vor Ort ermitteltExterner Link.

Civitas-Maxima-Direktor Werner, der an der Gerichtsverhandlung in der Schweiz teilnimmt, sagt: «Jedes Land hat seinen eigenen Ansatz.» Er stimmt aber zu, dass der finnische Prozess «hochmodern» sei, «ein Beispiel für Geschwindigkeit und Effizienz». Er argumentiert auch, dass ein Besuch vor Ort ein besseres Verständnis des Falls ermögliche.

Dies sei von Anfang an der finnische Ansatz gewesen, so Cruvellier. Es ermöglichte dem Gericht, ein Gefühl für die Orte, mit denen es zu tun hat, und die Lebensbedingungen vor Ort zu bekommen.

In seiner ersten Woche in Liberia besuchte das finnische Team mutmassliche Tatorte im äussersten Norden Liberias, nahe der Grenze zu Sierra Leone. Zwar seien die Beweise für den Krieg verschwunden, sagen sie. Aber diese Erfahrung habe ihnen geholfen, besser zu verstehen, womit sie es zu tun hätten, als sie begannen, etwa 50 Zeuginnen und Zeugen in der liberianischen Hauptstadt Monrovia anzuhören.

Auswirkungen in Liberia

Welche Auswirkungen könnten die Prozesse in Liberia haben? Das Land hatte von 2005 bis 2010 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission, die empfahl, ein nationales Kriegsverbrecher-Gericht einzurichten. Weil aber die Personen, die mit den Gräueltaten während der Bürgerkriege in Verbindung gebracht werden, immer noch an der Macht sind, ist dies nie zustande gekommen.

Das Thema ist nach wie vor politisch heikel. «Aber die Debatte hat in den letzten zwei Jahren mehr Zugkraft bekommen», sagt Cruvellier. «Und diese europäischen Prozesse haben der Debatte eine neue Bedeutung gegeben.»

Werner stimmt dem zu. «Ich denke, es hat die Frage, wie Liberia mit den Verbrechen während der Bürgerkriege und der Frage der Straflosigkeit umgehen sollte, wieder zurück auf den Tisch gebracht», sagt er. «Die sechs liberianischen Zeugen, die letzte Woche in der Schweiz ausgesagt haben, betonten vor den Schweizer Richtern alle, sie hätten ausgesagt, weil sie Gerechtigkeit wollten.»

(Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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